Im Bann der Nadel 29. August 2025

Ein Instrument zwischen Wissenschaft und Weltbild

Im Jahr 1683 wurde ein etwa 10 × 10 Zentimeter großer geomantischer Kompass (auch 羅盤 luopan oder 羅經儀 luojing yi genannt) aus China erstmals im Inventar der kurfürstlich-sächsischen Kunstkammer in Dresden erwähnt (Kat.-Nr. 47789) – damals noch als „Indianischer Compaß“ unter „Nr. 109“ geführt. Er zeugt vom frühneuzeitlichen Interesse des sächsischen Hofs an außereuropäischen Wissenssystemen und zugleich von einer Sammlungsgeschichte, die von der kurfürstlichen Kunstkammer bis zum heutigen Museum für Völkerkunde Dresden reicht. Doch was verbirgt sich hinter den Schriftzeichen auf seiner Platte? Welches Weltverständnis lässt sich darin erkennen?

Ein Kompass ist nicht nur ein spezielles Instrument der Geografie, sondern kann auch Werkzeug des Fengshui sein. Fengshui (風水) ist eine Praxis, die sich mit der harmonischen Gestaltung von Räumen und Umgebung beschäftigt. Ziel ist es, den Fluss der Lebensenergie qi (氣) zu optimieren, um Wohlbefinden, Glück und Erfolg zu fördern. Dabei spielen die Anordnung von Möbeln, die Ausrichtung von Gebäuden sowie Farben, Formen und Materialien eine Rolle. Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen den natürlichen Kräften zu schaffen. Die Praxis beruht unter anderem auf den grundlegenden Prinzipien yin (陰) und yang (陽) sowie der Fünf-Elemente-Lehre, also den Fünf Wandlungsphasen wuxing (五行 Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser). Sie findet Anwendung in Architektur, Innenraumgestaltung, Landschaftsplanung und Grablegung. 

Zur Zeit der Entstehung des Kompasses wurde davon ausgegangen, dass das qi-Feld des Menschen von dem des Universums beeinflusst wird. Harmonie zwischen Mensch und Kosmos galt als glückverheißend, Disharmonie hingegen als ungünstig. Der Kompass diente dazu, diese kosmische Ordnung sichtbar zu machen: Er verzeichnete zentrale Informationen des Universums – etwa die Sterne am Himmel, alle Dinge auf der Erde, die durch die Fünf Wandlungsphasen repräsentiert werden oder die Himmelsstämme und Erdzweige. Fengshui-Meister nutzten die Drehung der Magnetnadel, um die günstigste Richtung oder Zeit für bestimmte Personen oder Ereignisse zu bestimmen. Auch wenn der Begriff „Magnetfeld“ in der Lehre nicht benannt wird, verweist die präzise Abstimmung von Richtung, Position und Abstand zwischen den Kreisen auf ein implizites Verständnis magnetischer Ordnungen. 

Auf der Platte des Kompasses wurden Schriftzeichen in vier Kreisen um die Kompassnadel herum angeordnet. 

Der erste Kreis zeigt die vier Schrift­zeichen der (Haupt-)Himmels­richtungen sowie vier Trigramme, die anderswo als Teil einer Gruppe von acht Trigrammen (八卦 bagua) dargestellt werden. Der Ursprung der Acht Trigramme liegt in einer während der frühen Zhou-Zeit (11.-8. Jahrhundert v.u.Z.) praktizierten Kunst der Weis­sagung, die im Yijing (易經Buch der Wandlungen) erläutert wird. 

Grundlage des sogenannten Schaf­garben­orakels sind gebrochene und ungebrochene Schaf­garben­stengel, die unter­einander angeordnet sind. Ungebrochene Linien (bzw. Stengel) reprä­sentieren das Prinzip yang. Gebrochene Linien reprä­sentieren das Prinzip yin. Die Trigramme sym­bolisieren Natur­kräfte wie Himmel (乾 qian), Erde (坤 kun), Donner (震 zhen), Wind (巽 xun), Wasser (坎 kan), Feuer (離 li), Berg (艮 gen) und See (兌 dui). Jedem sind darüber hinaus Eigen­schaften, Himmels­richtungen, Farben, Tiere und Emotionen zugeordnet. Die Kombi­nation der Trigramme bildet die Grundlage der 64 Hexa­gramme des Yijing, die bis heute in Fengshui, Meditation und spiritueller Praxis verwendet werden – als System, das die Beziehung zwischen Mensch, Natur und Kosmos zu deuten hilft.

Die Schriftzeichen im zweiten Kreis stellen wiederum Abkürzungen der Sternbezeichnungen des Neun-Sterne-Diagramms (九星 jiuxing pan) des zuoshan-Typs (坐山九星盤 zuoshan jiuxing pan) dar. 

Der dritte Kreis zeigt die sogenannten „24 Berge“ (二十四山 ershisi shan). Dieser Begriff umfasst ein elementares Konzept in der Fengshui-Lehre: In ihr wird eine Unterteilung der Himmelsrichtungen in 24 Bereiche vorgenommen, wobei jeder Bereich ein Spektrum von 15 Grad umfasst, was eine Gesamtsumme von 360 Grad ergibt.

Der vierte Kreis zeigt die 60 Kombinationen des chinesischen 60-Jahre-Zyklus (甲子 jiazi), der sich aus der Verbindung von 10 Himmelsstämmen (天干 tiangan) und 12 Erdzweigen (地支 dizhi) zusammensetzt. Diese einzigartigen Paare dienen zur Zeitmessung und haben Bedeutung in Astrologie, Kalenderwesen und Schicksalsdeutung. Der Kreis (一百二十分金 yibai ershi fenjin) ist besonders wichtig für die Grablegung und symbolisiert den zyklischen Verlauf von Zeit und Lebensrhythmen.

Der Geomant hat im Laufe der Jahrhunderte einen langen Weg durch verschiedene Dresdner Sammlungen genommen: Zum ersten Mal tauchte er 1683 im Inventar der „Indianischen Cammer“ als „Indianischer Compaß“ auf. Später war er Teil des „Indianischen Zimmers“ des 1832 gegründeten Königlichen Historischen Museums. Bestände dieses „Zimmers“ wurden zwischen 1877 und 1879 wiederum an das damalige Königliche Zoologische und Anthropologisch-Ethnographische Museum abgegeben. Der Kompass verblieb jedoch noch länger am Historischen Museum – bis er 1933 schließlich in das Museum für Völkerkunde Dresden überführt wurde, wo er sich bis heute befindet.

Der chinesische Kompass ist nur ein Beispiel für Objekte aus der ehemaligen kurfürst­lichen Kunst­kammer, die sich bis heute im Museum für Völker­kunde Dresden erhalten haben. Schon früh waren auch andere Ethno­grafika Teil der vielfältigen Sammlungen des sächsischen Hofs. 

Zeichen und Konzepte zur Ordnung von Raum und Zeit, wie sie im Kompass eingeschrieben sind, finden sich auch auf weiteren Objekten des heutigen Bestands des Museums für Völkerkunde: etwa auf weiteren Kompassen, Stadtplänen, daoistischen Kalenderblättern oder Uhren mit Tierkreisbezug aus anderen Sammlungskontexten. Ihre Präsenz in Stücken aus dem 18. bis 20. Jahrhundert verweist auf das anhaltende Interesse an ostasiatischen Wissenssystemen und zeigt, wie diese über Jahrhunderte hinweg gesammelt, interpretiert und bewahrt wurden.

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