„Und dann wurde klammheimlich der Zwinger verkaupelt“
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—> Aus transkribierten Aufzeichnungen einer reisenden Identität in einer nicht näher bezeichneten Zukunft:
Wir hatte bereits viel zu jenem Ort aufgezeichnet, zu jenem Gebäude unbekannter Funktion, welches einzig noch von der Existenz der ursprünglich wohl prächtigen urbanen Agglomeration zeugt. Die schwüle Hitze beeinträchtigt das Fortbewegen. Der Aufenthalt ist selbst in diesen Landstrichen deutlich erschwert. Heftige Regenfälle sind keine Seltenheit, und der Blick auf die umgebenen saftig-grünen Reisfelder ein unerwartet beruhigender Sinneseindruck. [scan report] Gestreckte Langgalerie mit imposanter, mittig angeordneter, turmähnlichen Durchgangsstruktur. Abschluss = zwiebelartiges Gebilde reich an prunkvoll vergoldet erscheinendem Dekor auf schwarzem Grund. An den Kurzausläufern zwei palastähnliche Strukturen mit Sandstein-imitierenden humanoiden Figuren entlang des Dachsims. U-förmiger Grundriss umschließt Anpfanzungen in schwer zu entziffernden Formationen. [analytics] Wie mag es hier früher ausgesehen haben? Und welche der anwesenden Entitäten hat sich des Fortbestehens dieser artifziellen Anpfanzungen annehmen können? Vermochte diese schneidende Präzision auszuhalten? Versuchen uns, alte Stiche ins Hippocampus-Implant aufzurufen: Ein Gebäudeviereck umringt von einem Ensemble aus kompaktem Bühnenhaus, einem zum Himmel aufstrebenden Gebäude, welches zu religiösen Zwecken verwendet worden sein muss (zentrifugales Streben in den Kosmos), [deleted]. Dann exzessiver Klimawandel (Plur.), Überschwemmungen, Brände, umfassende Bevölkerungswanderungen. Nun wieder vielfältige Organismuspopulationen anwesend [end of recording].
2019 komme ich mit einem niederländischen Stipendium für eine dreimonatige Künstlerresidenz nach Arita, und damit ins Porzellanzentrum Japans, welches sich auf der südlichen Insel Kushu befindet. Vor der Abreise kamen 2 mir bei meiner Online-Recherche bereits Bilder des Zwingers unter, die etwas merkwürdig erschienen, doch ich dachte mir nichts weiter dabei. In Arita angekommen, befinde ich mich dann an einem der Einführungstage im Zwinger von Arita, oder im Arita Porcelain Park, wie er hier heisst. Das barocke Ensemble ist mir aus Dresdener Studientagen sehr vertraut. Nun im Zwinger in subtropischer Hitze und so andersartiger Geräuschkulisse von schnarrenden Zikadengesängen zu stehen, fühlt sich fremd und unwirklich an, so als ob ich mich entweder nicht am richtigen Ort oder nicht in der richtigen Zeit befinden würde: Was wenn es sich bei diesem Gebäude doch um das Dresdner Original handeln würde, aber in Tausenden von Jahren in der Zukunft, in denen drastische Klimawandel und einschneidende Bevölkerungswanderungen dazu geführt hatten, dass nur der Zwinger noch von Dresden übrig geblieben war? Ich wundere mich, wie es zur Errichtung des Zwingers in Arita gekommen sein mag und beginne (always having a side project) vor Ort zu recherchieren.
Der jetzige Eigentümer, der Sosei Sake Brauerei, bei der es sich ursprünglich um einen Kammerjäger-Betrieb gehandelt haben soll, hatte den Arita Porcelain Park nach dessen Bankrott übernommen und am Rande des Komplexes (zu dem auch noch typisch-deutsche Fachwerkhäuser gehören) Produktionsstätten zur Sake-Herstellung errichtet. Die ursprüngliche Eigentümerin war die VOC limited company, die absurderweise ihren Namen mit der Vereenigde Oostindische Compagnie teilt, der Dutch East India Company, und damit mit jener 1602 gegründeten Handelsvereinigung, die eng mit der niederländischen Kolonialvergangenheit verbunden ist.
Die VOC auf Kushu wurde von Tadashi Fukagawa mitbegründet, dem damaligen Eigentümer von Koransha, einer der berühmten Porzellanmanufakturen in Arita, die sich seit dem 17. Jahrhundert in Familienbesitz befinden. Und von Tadashi Fukagawa’s jüngstem Sohn, der jetzt das Unternehmen leitet, erfahre ich das erste Mal von jenen wilden Japan-DDR-Connections, die, so erzählt es der Sohn, mit dem Gerücht begannen, dass sich im Keller des Zwingers wohl eine große Ansammlung des berühmten Arita-Porzellans befinden sollte. Sein Vater war in der Bibliothek der Koransha Manufaktur auf ein Exemplar des äußerst seltenen Buches Keramic Art of Japan von 1881 gestoßen, in der die Dresdner Porzellansammlung im Zusammenhang mit Arita Porzellan prominent erwähnt wurde, und er beginnt Ende der 1960er Jahre wohl Briefe nach Dresden zu schreiben, an die Porzellansammlung Dresden und ihre langjährige Direktorin Ingelore Menzhausen. Im Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist Menzhausens Korrespondenz feinsäuberlich abgeheftet. Der erste Hinweis auf einen Kontakt mit Arita findet sich in Form eines Telegrams mit anschließendem Brief vom Juni 1970. Da wird der Besuch im September desselben Jahres bereits geplant. Im September 1970 kommt die Arita China Ware Mission (worunter auch Sakaida Kakiemon XIV, lebender Nationalschatz Japans) nach Dresden, und damit aus japanischer Sicht in eine sozialistisch-kommunistische Arbeiter- und Bauerndiktatur, zu der Japan zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal offizielle diplomatische Beziehungen pflegte. Gab es Bedenken? Kann man sich diese Reise wie eine Reise ins heutige Nordkorea vorstellen? Der Besuch war dann jedenfalls ein großer Erfolg. Neben Dresden besuchen die seven samurai, wie sie genannt wurden, auch die Meißener Porzellanmanufaktur, und erste Beziehungen wurden damit auch nach Meissen geknüpft. Ab 1973 beginnen die Planungen für eine große Wanderausstellung von Arita Porzellanen aus der Dresdener Porzellansammlung, die 1975 in Japan unter viel positivem Anklang und Presse in Japan stattfindet. Der kulturelle Austausch wird vertieft, es folgen weitere Besuche, und 1979 wird dann die offizielle Städtepartnerschaft zwischen Arita und Meissen unterzeichnet.
Nun fand dieser Kulturaustausch nicht im luftleeren Raum statt: Porzellane der Meissener Manufaktur waren nicht nur wichtige Devisenbringer. Porzellan war ebenfalls eines der politischen Kulturgüter, die —staatlich gefördert— diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen anbahnen sollten. Bis zum Jahre 1973 gab es keine diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und Japan. Die DDR versuchte dennoch, in Japan Fuß zu fassen —man war vor allem auch an technisch-wirtschaftlichen Verbindungen interessiert— und hierfür sollte sich Japans Aufgeschlossenheit zu allem Deutschsprachigen und das deutliche Interesse an deutschen Kulturgütern zu Nutze gemacht werden. Im Oktober 1973 wird die Botschaft der DDR in Tokio eröffnet, im März 1974 das Agreement für den ersten DDR-Botschafter in Japan erteilt, und 1977 reist die erste offizielle Staatsdelegation der DDR nach Japan. Gekrönt werden all diese Bemühungen 1981, als der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR Erich Honecker auf Einladung der japanischen Regierung zum ersten offiziellen Staatsbesuch nach Japan kommt. Während dieser Reise fährt Erich Honecker nicht nur mit Begeisterung Shinkansen und wird vom japanischen Emperor zum Lunch geladen.
Erich Honecker wird auch zum Ehrenbürger Aritas ernannt, und er notiert im Gästebuch der Stadt: „Hohes handwerkliches Können und schöpferisches Leistungsvermögen haben den Weltruf der japanischen Porzellankunst begründet. Die Zeugnisse des Fleißes der Bürger der berühmten Porzellanstadt Arita überdauern Generationen und Jahrhunderte. Sie sollen nie durch Kriege zerstört werden und der kulturellen Erbauung der Menschheit dienen. Möge sich die Partnerschaft zwischen Meißen und Arita im Frieden entwickeln und Symbol für gute Beziehungen und die Freundschaft zwischen den Völkern der DDR und Japan sein. Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR.“
Nach all den erfolgreichen Ausstellungsvorhaben, sowohl in Japan als auch in der DDR, wächst in Herrn Fukagawa in den 1980er Jahren der Wunsch, einen eigenen Ausstellungsort von Arita Porzellan vor Ort zu errichten, und welches Gebäude würde sich dazu besser eignen als eine Kopie des Dresdener Zwingers? Mit dem Erlass des „Law for the Development of Comprehensive Resort Areas“ 1987, welches die Entwicklung einheimischer Freizeit- und Tourismuseinrichtungen zum nationalen Projekt erklärt, eröffnet sich die Möglichkeit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, und in Form eines Themenparks an die ursprüngliche Funktion des Zwingers anzudocken. 1988 verstirbt Tadashi Fukagawa unerwartet, ohne seinen Plan der Zwingerkopie als einheimischen Ausstellungsort realisieren zu können.
Sein ältester Sohn Noriyuki Fukagawa war jedoch mit der Tochter Hiroyoshi Aokis verheiratet, Eigentümer der Aoki Corporation und damit einer der reichsten Männer der Welt. Jener macht es sich aufgrund der familiären Verbindungen zur Aufgabe, Tadashi Fukagawas Herzenswunsch zu erfüllen. Im Mai 1990, und damit noch zu DDR-Zeiten, reisen der Bürgermeister Aritas sowie Generaldirektoren der Arita VOC Cooperation und der Aoki Corporation nach Dresden, um sich für das Projekt der Zwinger-Kopie auszusprechen. Der damalige Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen nutzt diese Gelegenheit, die Arita VOC Cooperation um eine (großzügige) Spende zu bitten, bei der „die Zwinger-Kopie in Arita als Sponsor bei der Rettung des Zwinger-Originals hilft“. Diese Spendenaufforderung bekräftigt er beim Besuch von Hiroyoshi Aoki im darauffolgenden Jahr.
Hiroyoshi Aoki kommt zusammen mit einer größeren Delegation, zu der neben seiner Frau auch Tochter Mariko, Ehefrau Noriyuki Fukagawas, Noriyuki Fukagawa selbst und ein ehemaliger brasilianischer Energieminister angehören, im August 1991 für einen Tag nach Dresden. Neben den Außenanlagen des Zwingers und dem Museumsteil der Porzellanmanufaktur Meissen, werden auch Gespräche mit der Treuhandanstalt Niederlassung Dresden geführt, um sich über die Privatisierungsprozesse der hiesigen Betriebe zu informieren. Hiroyoshi Aoki äußert nämlich den Wunsch, im sächsischen Bau- und Hotelgewerbe aktiv zu werden, und ich frage mich, ob entweder eigene wirtschaftliche Interesse mit der Anbahnung der Zwingerkopie oder die Anbahnung der Zwingerkopie mit vagen Versprechungen von wirtschaftlichen Investments verbunden werden.10 Am 18. April 1993 findet dann die offizielle Einweihung des Arita Porcelain Parks statt, zu der z.B. auch Generaldirektor Schmidt der Staatlichen Kunstsammlungen nach Japan reist.
Der Arita Zwinger als Themenpark existiert dann nur für einen relativ kurzen Zeitraum. Aufgrund finanzieller Unrentabilität wird der Arita Zwinger nach nur wenigen Jahren bankrott erklärt. Nach Erwerb durch die Sosei Sake Brauerei ist er der Öffentlichkeit nun wieder zugänglich. Der Arita Porcelain Park dient seinem Eigentümer zu repräsentativen Zwecken, was mir ein wenig schleierhaft ist, handelt es sich bei Sake doch um ein typisch japanisches Getränk. Der Arita Porcelain Park entwickelte sich auch zum beliebten Ausflugsziel vor allem chinesischer Touristen, und wird von diversen japanischen Filmproduktionen als europäisch-historische Filmkulisse genutzt. Ich frage mich nun: Was wäre, wenn der Arita Zwinger nicht nur als Ausstellungsort konzipiert, sondern dessen Errichtung seit Mitte der 1980 Jahre auch tatkräftig vom MFS unterstützt worden wäre?
Im Rahmen der Ausstellungseröffnung „Arita grüßt Meißen“ am 7.Juni 1985 wurden 2 japanische Delegationen erwartet, die an den Eröffnungsfeierlichkeiten teilnehmen sollten. Unter der offiziellen Repräsentationsgruppe befand sich auch Tadashi Fukagawa, Eigentümer der berühmten Porzellanmanufaktur in Arita und wichtige Schlüsselperson im DDR-Japanischen Kulturaustausch. Als Teil der DDR-Delegation war es mir möglich, mit Herrn Fukagawa sowohl bei der Einweihung des Arita-Hains im Park Siebeneichen als auch während der Eröffnung der Ausstellung in der Albrechtsburg ungezwungen ins Gespräch zu kommen. Während eines dieser informellen Gespräche erwähnte er, dass es seit längerem sein unbedingter Wunsch sei, in Arita einen repräsentativen Ausstellungsort errichten zu wollen, und dies am liebsten in Form einer Kopie des Dresdner Zwingers. Als ich zu bedenken gab, dass die Dresdner mit ihrem Lokalpatriotismus dies wahrscheinlich nicht zulassen würden, schaute mich Herr Fukagawa nur wissend an und sagte aber nichts, was mich stutzig machte. Der Rest des Gesprächs verlief unauffällig, ebenso wie die sich anschließenden Veranstaltungen.
gez. „IMS Barock“
Betr.: Zur möglichen Zwingerkopie in Arita, Japan und die Nutzbarmachung für operative Vorgänge
Lieber Genosse (geschwärzt),
wie Sie bereits wissen, sind wir seit längerem auf der Suche nach potentiellen Trainingsstätten für zukünftig anzuwerbende Kundschafter des Friedens im NSW. Für den für uns so wichtigen japanischen Raum scheint sich nun eine Möglichkeit aufzutun (siehe Bericht IMS Barock). Eine angestrebte Zwingerkopie im südlichen Kyushu würde nicht nur die für eine bestmögliche Schulung der angeworbenen Personen nötige typisch-europäische Architektur und Innenausstattung garantieren. Aufgrund der Abgeschiedenheit wäre dieser Neubau auch einem deutlich geringeren Fremdenttarnungsrisiko ausgesetzt. Wir wissen bereits, dass touristische Freizeitaktivitätskulissen sehr gut geeignet sind, operative Vorgänge effektiv zu maskieren. Hinzu kommt, daß wir im Dresdner Zwinger bereits mehrere operative Übergabeorte etablieren konnten, und sich damit die einzigartige Möglichkeit ergeben würde, festgelegte Kontrollmaßnahmen etc in gespiegelten Räumlichkeiten vor Ort in Japan unter semi-realen Bedingungen trainieren zu können. Ich würde dies gerne demnächst persönlich mit Ihnen und Gen. (geschwärzt) besprechen. Im Anschluss daran könnten wir mit der nächsten Arita Delegation noch in diesem Jahr den Auftrag auslösen, vor Ort mögliche Kontaktpersonen ausfindig zu machen.
gez. (geschwärzt)
Ihnen scheint eine barocke Kulisse für eine Sci-Fi Spy Story zu abwegig? 11 Das sahen zumindest die Macher des bekannten DDR Science Fiction Film Eolomea ebenfalls anders. Bei der barocken Silvesterfeierkulisse in Eolomea handelt es sich zwar nicht wie ursprünglich angenommen um den Dresdner Zwinger sondern um das Neue Palais von Sanssouci. Eine der Hauptpersonen des Films, die junge Wissenschaftlerin Prof. Maria Scholl, benutzt dann jedoch während einer Sitzung des wissenschaftlichen Rates des Erde-Zentrums Margot, wo führende WissenschaftlerInnen aus aller Welt als MitgliederInnen des obersten irdischen Gremiums für die Raumfahrt der Zukunft an DDR-Standard sprelacartbeschichteten Schulbänken sitzen, sitzen, eine Original Meissener Zwiebelmustertasse nicht etwa, um Kaffee daraus zu trinken, sondern ihre Zigarette darin auszudrücken.