Bei Kiewer Fresken (Sergei Paradschanow, UdSSR, 1966) handelt es sich streng genommen nicht um einen Film, sondern um Screentests, filmische Stellproben sozusagen, die übrig geblieben sind, nachdem das Projekt von sowjetischen Zensoren auf Eis gelegt wurde. Der in Tiflis geborene Paradschanow war Mitte der 1960er gerade zum Gesicht einer neuen ästhetischen Bewegung geworden, die als Künstlerbohème auch mit der poststalinistischen Sowjetunion ideologisch nicht so recht zu vereinbaren war: "Poetic Cinema", im Wesentlichen begründet durch Paradschanows Film Feuerpferde (Teni sabytych predkow [„Schatten vergessener Ahnen“], UdSSR, 1964), der sich mit einer besonderen erzählerischen Visualität der Folklore eines huzulischen Bergdorfes widmete. Dem sozialistischen Realismus streng verpflichtet schränkte man das Wirken des Filmpoeten ein und brandmarkte seine Aufnahmen für Kiewer Fresken als bürgerlich, formalistisch und mystizistisch – Prädikate, die sicherlich in der Sache nicht unbedingt falsch, die im Systemkampf des Kalten Krieges allerdings hochgradig ideologisch aufgeladen waren. So rückte Paradschanows Filmschaffen in programmatischen und offensichtlichen Widerspruch zur geltenden polit-ästhetischen Ordnung. In den frühen 1970er Jahren wurde er schließlich verhaftet, nachdem der Vorsitzende des ukrainischen KGB an das Zentralkomitee der kommunistischen Partei vermeldet hatte, dass Paradschanow einen Dissidenten verteidigt und offen die sowjetische Regierung kritisiert habe. Er galt fortan als „Ukrainischer Nationalist“.1 Und außerdem verführe er Männer, was ihm bereits in den 1940ern eine Gefängnisstrafe eingebracht hatte.2
1 Rosenbaum, Jonathan: Paradjanov’s Films on Soviet Folklore, In CINEASTE, Summer 2002, 42-44, 43. Rosenbaum reiht noch eine ganze Reihe anderer, mitunter illustrer Vorwürfe auf („dealing in foreign currency, speculating on art-works, and stealing icons to spreading venereal diseases“) die gegen Paradschanow erhoben wurden und die allesamt vor allem dadurch motiviert scheinen, dass er ein exzentrischer Troublemaker war.
2 Über Parajanovs Gefängsnisaufenthalte kann bei Tigran S. Simyan gelesen werden. Simyan, Tigran S.: „Guilty of Being Free“: An intellectual vs. Soviet Penal System (Prison Letters and Drawings of Sergei Parajanov), in Changing Societies & Personalities, 2022, Vol. 6, No1, 197-216, 206. [doi]
Die Aufnahmen für Kiewer Fresken sind trotz Abbruch des Projekts zusammengeschnitten und mit einer Tonspur versehen worden. Es lässt sich allerdings kaum sagen, welche Bilder wirklich auf einen zu montierenden Zusammenhang hin gedacht waren und welche auch dann bloß Proben geblieben wären, wenn ein ganzer Film daraus entstanden wäre. Und trotzdem oder vielleicht gerade dadurch fasziniert das, was wir sehen können, auf die ganz paradschanowsche Eigenart. Denn in dieser Hinsicht unterscheidet sich Fresken kaum nennenswert von Paradschanows abgeschlossenen Projekten, deren Szenen und Einstellungen häufig weniger durch raumzeitliche Kausalität verknüpft werden, als dass sie sich vielmehr in einem Modus freier, eher an der Form interessierten Assoziativität entfalten. Auch motivisch kündigt sich in Fresken vieles von dem an, was sich drei Jahre später in seinem Schlüsselwerk Die Farbe des Granatapfels (orig.: Sayat Nova, UdSSR, 1969) wiederfinden wird: die frontalflächige Symmetrie von Dreierfigurenkonstellationen, Liegende, die sich in strenger Horizontalität von Bildrand zu Bildrand einer Halbtotalen erstrecken und die irgendwie zugleich tot und lebendig scheinen, Wasser, das aus unerklärlichen Quellen über den Bildraum spült, das folkloristische Handwerk, die vielen Rahmen und Fenster, die im Film spätestens seit André Bazin3 stets als Reflexion über das Begrenzende und Öffnende der Leinwandränder zu verstehen sind, das unerbittliche, rhythmische Ticken auf der Tonspur, im Bildraum verteilte, aufgeschlagene Bücher und die steinernen, ätherischen Blicke der Figuren in die Kamera.
3 Bazin, André [1975]: "Was ist Film?", Berlin: 2004.
Kiewer Fresken war dem Überfall der Wehrmacht auf Kiew im Zweiten Weltkrieg gewidmet. Allerdings sehen wir weder Nazis noch Überfälle, sodass einem dieser Hintergrund durchaus auch entgehen könnte. Manchmal erzählen Filme gerade das, was sie nicht zeigen. Besagter Hintergrund wird im Wesentlichen durch die erste Einstellung markiert, die den Obelisken und die ewige Flamme am Denkmal des unbekannten Soldaten in Kiew ineinander überblendet. Mit dem Denkmal wird in der Stadt an den Überfall und die sowjetischen Gefallenen erinnert. Es folgen einige Details und Anschnitte von Kiewer Wahrzeichen, wie von einem der vielen goldenen Zwiebeldächer der Kathedralen der Stadt und von Statuen ihrer historischen Helden, wie Vladimir dem Großen oder dem Kosakenführer Bohdan Chimelnyzkyj, die wir an der Bulawa4 in seiner Hand identifizieren können. Letzterer hatte im 17. Jahrhundert den Aufstand gegen Polen-Litauen angeführt, aus dem schließlich die Angliederung an das russische Zarenreich hervorgegangen war. Vladimir wiederum ist die zentrale Figur der Christianisierung des Kiewer Rus und daher maßgeblich für die Bedeutung der inzwischen fast tausenddreihundertjährigen Stadt als wichtiges religiöses Zentrum der russich- und ukrainisch-orthodoxen Kirchen. Die gesamte osteuropäische Orthodoxie geht im Prinzip auf seine Heirat mit der Byzantinerprinzessin Anna zurück, die er nach der Eroberung von Byzanz im Jahre 988 erzwungen hatte.
4 Die Bulawa (Kommandostab) war Heerführerinsignie bei den Saporoger Kosaken und ist heute wichtiges Regentensymbol des Ukrainischen Staatspräsidenten.
Es ist filmisch mindestens ungewöhnlich eine Stadt anhand solcher Detailaufnahmen und Anrisse ihrer Wahrzeichen zu zeigen. Nie ist sie als Stadt, als sozial und architektonisch Verdichtetes zu sehen. Das gilt auch für alle weiteren Einstellungen, die mit Ausnahme dieser ersten und der letzten Sequenz ausschließlich in einem sich bühnenartig wandelnden Raum spielen. Zuerst begegnen wir hier drei Rotarmisten. Drei Porträtgemälde von Adligen im Hintergrund und drei Holzstühle im Vordergrund korrespondieren ihnen in Anzahl und Position. Das Arrangement ist in einer frontalen Totale zu sehen, die dem Geschehen mit dem ersten Blick den Eindruck jener Bühnenhaftigkeit verleiht und die in ihrer Flächigkeit geradezu gemäldeartig wirkt. Die Symmetrie der Anordnung und der sich wiederholende Dreiklang in den Portraits und Stühlen unterstützt diesen Eindruck. Nichts daran wirkt zufällig. Alles ist künstlich, choreographiert und der Realität enthoben. Das gilt für den gesamten Film. Paradschanow erntet für seinen besonderen filmischen Stil bis heute Verehrung von höchster Stelle. Martin Scorsese zum Beispiel hat gesagt, dass es in der Geschichte des Kinos nichts Vergleichbares zu Paradschanow gebe.5 Und wenn man sich die historische Situation vor Augen führt, in der nur wenige Jahre vor den Aufnahmen zu Kiewer Fresken die Nouvelle Vague in Frankreich eine filmische Revolution ausgerufen hatte, die wesentlich auf die Verdeutlichung der Künstlichkeit der filmischen Universen zielte, indem sie mit Jump Cuts, Kamerablicken und anderen Regelverstößen gegen die damaligen Standards des filmischen Erzählens agitierte, wird die Spezialität des paradschanowschen Filmschaffens besonders deutlich. Die französischen Filmemacher hatten das Wachrütteln aus den filmischen Traumwelten zum Stilmittel erhoben und in den Dienst einer Markierung ihrer künstlerischen Gemachtheit gestellt. Bei Paradschanow dagegen wirkt alles derart traumartig und gemacht, dass erst gar niemand darauf käme, die Künstlichkeit der Bilder und die Handschrift des Autors zu übersehen. Es verwundert deshalb nicht, dass Jean-Luc Godard, der Intellektuelle unter den französischen Filmrevolutionären, ihn den Hohepriester im Tempel des Films nannte.7
5 Scorsese, Martin (2014) zit. in: Sloane, Peter: Kinetic Iconography: Wes Anderson, Sergei Parajanov, and the Illusion of Motion, in: Texas Studies in Literature and Language, Vol. 60, No. 2, 2018, 246-268, 251. [jstor]
6 Godard, Jean-Luc in Parajanov: The Last Collage (Ruben Gevorgyants, 1995) [link]
Das einzige, was an der ganzen Szene mit den Soldaten nicht irreal und artifiziell wirkt, ist das Scherzen der drei, die sich über herrschaftliches Gebaren lustig machen, wie es durch die Adelsportraits im Hintergrund repräsentiert wird.7 Es ist ein vortreffliches Beispiel für Paradschanows assoziatives Spiel mit den Formen. Zwei der Soldaten finden auf ihrem Stuhl einen Apfel und nehmen ihn erfreut auf; der dritte bekommt eine Bulawa (das Zepter mit dem charakteristischen Apfel an der Spitze) und tut, was damit eben zu tun ist: regentenhaft Gestikulieren. Man lacht gemeinsam. Dann nehmen die drei Platz, ziehen ihre Schuhe und die für russische Armeen und ukrainische Soldaten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts typischen Fußlappen aus und stellen die leeren Stiefel auf den Stühlen ab. Der Kampf ist vorbei.
7 Es handelt sich um Portraits polnisch-litauischer Landadliger. Eines zeigt Petro Wojciechowicz, bei dem zweiten handelt es sich vermutlich um Ivan Skoropadsky, der dritte konnte vom Autor nicht identifiziert werden.
Im Folgenden werden die leeren Schuhpaare zu einem Motiv und stehen etwa am Bett eines liegenden Soldaten oder auf der Fußwippe einer Nähmaschine. Nun lesen sie sich allerdings nicht mehr als Sinnbild beendeter Kämpfe, sondern werden zu einem Vehikel der Beklemmung. Der bis auf die Schuhe vollständig uniformierte Soldat liegt mit Maschinengewehr und Helm im Bett in einer jener bei Paradschanow häufigen Einstellungen, horizontal in Halbtotale von Bildrand zu Bildrand. Er stöhnt und atmet mit einer Dramatik, in der sich das Nahen seines Todes andeutet. In der Haltung der zwei Figuren, die sich neben ihm in kläglicher Pose auf einen Tisch stützen und dem sakral anmutenden Gesang von der Tonspur, werden sein Dahinscheiden und die zeremonielle Trauer darüber vorweggenommen. Die leeren Schuhe werden so zur Reminiszenz an das Lebendige, von dem sie einst befüllt waren. Sie verweisen auf etwas, das verloren ist und sich an ihnen nur noch als Mangel zeigt. So ist es auch bei der Fußwippe der Nähmaschine, auf der zwei weiße, ebenso unbefußte Damenschuhe stehen und deren langsame, aber anhaltende Wippbewegung als eine Art mechanisches Echo eines lange zurückliegenden Impulses verständlich wird – als habe die Maschine bloß noch nicht bemerkt, dass sie nicht mehr angetrieben wird. Die Schuhe sind ja schließlich noch da. In all die Sterilität und Schwere schreibt sich auf diese Weise zugleich ein verspielter Widerstand ein, der keinerlei logischen Sinn ergibt, sondern sich solchem mit ästhetischem Trotz widersetzt.
Wenn wir den Film vor dem Hintergrund des Überfalls durch die Nazis deuten, so werden diese Motive als Symptome eines Traumas lesbar: die fußlosen Schuhe, das Stöhnen des liegenden Soldaten, die ausdruckslosen Gesichter mit dem Thousand-yard stare, alles jenseits der Einstellung mit den drei Soldaten impliziert nun Gravierendes, das diesen Bildern vorausgegangen ist. Der barocke Rahmen, der den liegenden Soldaten umgibt, wirkt dann nicht mehr nur wie eine bazinsche Reflexion über die Medialität der Filmkunst, sondern wird zur absoluten Markierung einer kollektiven Wunde, zum Sinnbild der unausweichlichen Konzentration auf das traumatische Ereignis. Karla Oeler, die über Paradschanows Die Farbe des Granatapfels geschrieben hat, verortet sein Schaffen zwischen James Joyce und Sergej Eisenstein, zwei absoluten Giganten der modernen Erzählkunst, weil sich in seinem Werk ein kollektives Bewusstsein (Eisenstein) in freiem, inneren Monolog (Joyce) ausdrücke.8 Das Trauma, üblicherweise das psychische Problem eines Einzelnen, wird im Falle des Krieges zu einem kollektiven und ist insofern genau in diesem Zwischenraum verortet. Das Besondere an Paradschanows Film ist nun, dass er nicht nur ein adäquates Bild dieser Gemeinsamkeit der Masse anbietet, sondern dass er es in einen Strom subjektiver Assoziativität einbettet und ihm so auch die adäquate Umgebung verschafft, in der es auftritt. Im Ergebnis ist es ein wenig als träumten wir einen kollektiven Traum. Das könnte auch eine Definition des Kinos sein. Vielleicht ist er also wirklich ein filmischer Hohepriester.
8 Oeler, Karla: A Collective Inner Monologue: Sergei Parajanov and Eisenstein’s Joyce-Inspired Vision of Cinema, in: The Modern Language Review, Apr., 2006, Vol. 101, No. 2, 472-487 [Link]
Der goldene Rahmen wird später erneut auftauchen und als ein großes Pendel im Bildraum hin und her schwingen. Ein Junge steht dahinter auf dem Deckel eines schwarzen Konzertflügels, den wir zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon aus vorherigen Einstellungen kennen. Er wirft Papierflieger durch den Rahmen hindurch. Mit naivem Spiel gibt der Junge einer möglichen Überwindung der pendelnden Last ein Bild. Seine Flieger kreuzen die Pendelbewegung. Er hat den Kampf um die Stadt nicht miterlebt. Es liegt im Wesen des Spiels, dass die Zweckbestimmungen der Realität zeitweise ausgesetzt werden, die Dinge etwas anderes bedeuten können, andere Prioritäten gelten, Rundes in Eckiges oder Flieger durch Rahmen muss. Spiel ist Heilung von den Zwängen der Realität. Das hat das Spielen mit der Kunst gemein.
Paradschanow hat den Kampf um die Stadt nicht miterlebt. Spielerisch ist auch seine Beziehung auf die Elemente der Einstellungen, die häufig formal korrespondieren, sich spiegeln und reimen. Wie die unbefußten Schuhe, wie die Bulawa, wie der Rahmen taucht vieles in anderen Bildern wieder auf, verändert seine Bedeutung, unterläuft Erwartungen und gewinnt symbolische Dimension. Der schwarze Flügel etwa ist in vielen Einstellungen zu sehen, in denen der Raum stets anders, aber immer als derselbe wiederzuerkennen ist.9 In einer dieser Einstellungen sehen wir rechts einen Mann und links eine Frau. Im linken Bildhintergrund hängt auf einem Kleiderständer ein weißes Brautkleid vor einem schwarzen Frack, sich so überlagernd, dass sich darin ein visuelles Analogon der Bekleidung der Frau ausmachen lässt, deren Ärmel ebenfalls schwarz sind. Als die Frau im Vorbeigehen das Arrangement der beiden Kleidungsstücke in Drehung versetzt, insinuiert das einen innigen Tanz, wie ihn Liebende vollführen. Eine Einstellung später präsentiert uns der Mann glückselig einen Ring. Doch die Freude währt nicht lang.
9 Die Gegenstände, Figuren und ihre Verhältnisse ändern sich ständig, die Einstellungen ähneln sich allerdings. Was bleibt, sind der Dielenboden und die weiße Wand im Hintergrund. Mal ist da ein Fenster, mal Wand, mal ein Holzrahmen, dann steht da plötzlich eine Kutsche, dann rollt ein Kinderwagen ins Bild. Der Raum erinnert daher eher an die Bühne eines Theaters als an einen filmischen Raum.
Die Frau im weißen Kleid und den schwarzen Ärmeln zieht ihren Ring vom Finger und hält ihn uns zur Ansicht hin, während sie uns verloren entgegensieht. Wie die leeren Schuhe deuten wir das im Horizont des Verlusts. Diese Deutung wird auch dadurch bestärkt, dass der Mann wenig später abrupt seinen eigenen Ring auf die Saiten des geöffneten Flügels schleudert, sodass wir einen der eher spärlichen intradiegetischen10 Töne hören. Anschließend legt er sich mit pharaonenhaft verschränkten Armen rücklings über das Klavier. Das disharmonische Dröhnen, das die Wucht seiner Aktion den Klavierseiten entlockte, wird spätestens jetzt in der Retrospektive als Schuss lesbar. Es erschließt sich als brutaler Einbruch in das sonst so sorgfältig kontrollierte Arrangement und steht in deutlichem Kontrast zur betont behäbigen Theatralik des übrigen Geschehens, das in dieser Szene sonst von wohligem Geklimper begleitet wird. Zu ihrem Abschluss erdröhnt es erneut. Der akustische Schock bleibt auch im Folgenden ein wiederkehrendes Motiv des brutalen Einbrechens. Als solches bildet es das Gegenläufige des Spiels. Zum Spielen braucht es Distanz zur Realität. Um die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Überwindung, die solcher Entfernung vorausgeht, kreist der Film. Das Kind hat es da leicht.
10 Ton, der Teil der erzählten Welt ist, also in dieser Welt existiert, im Gegensatz etwa zu Filmmusik, die in den meisten Fällen nur wir als Publikum hören.
Doch der erzählende Teil endet gerade nicht in Spiel, sondern mit dem fatalen Dröhnen. Das akustische Geschehen, das von Mussorgskis Bildern einer Ausstellung, über das aufdringliche Klingeln einer Handglocke bis zu den disharmonischen Tönen einer verstimmten Laute reicht, schaukelt sich zuvor in zunehmend anstrengender Aufdringlichkeit hoch. Ein Schlafender windet sich krampfend auf einer Liege. Er erwacht, nachdem angedeutet wird, dass er von einer Frau mit OP-Maske eine Spritze erhält. Die Frau haben wir etwas früher mit Hula-Hoop-Reifen die Hüfte schwingen sehen. Da wussten wir noch nicht, dass sie medizinisches Personal ist. Vielleicht war das Teil des Fiebertraums, den der Mann träumt und aus dem er schließlich in einem wieder neuen, alten Raum erwacht. Die Tonspur spielt Anastasia von Pat Boone: „Anastasia, smile away the past. Anastasia spring is here at last...“. Ihm gegenüber steht eine nackte Frau und auf dem Boden liegen gesägte Abschnitte von Birkenstämmen verteilt. Die Birke ist ein wichtiger Baum in der slawischen Folklore, Sinnbild des Frühlings und somit der Erneuerung. In einem der Abschnitte steckt eine Axt. Der Mann greift die Axt mit dem darauf steckenden, halb gespaltenen Baumabschnitt und holt aus, um ihn zu zerschlagen. In einiger Entfernung steht in Schlagrichtung noch immer die Nackte.
Während das Bild abrupt in Schwarz blendet, hören wir ein letztes Mal den Klavierschuss donnern. Anschließend sehen wir wieder Detailaufnahmen aus Kiew, sodass die anfangs geöffnete filmische Klammer wieder geschlossen wird. Wieder sehen wir die Dinge der Stadt so nah, dass sie nie ganz zu erfassen sind. Es gibt keine Postkartenansichten von Kiew. Die Stadt wird uns nur als Konzept begreiflich, als das Ganze der Fragmente, die uns von ihr gezeigt werden. Darin ähnelt sie den Birkenabschnitten, den Bildern und Szenen. Darin ähnelt sie dem Film insgesamt und freilich den Texten über den Film. Und schließlich ähnelt sie darin der Geschichte, insbesondere der des Krieges.
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