Jeden Mittwoch gehen die Bewohnerinnen des „House of Sharing“ in Seoul zur japanischen Botschaft. Dort versammeln sie sich zusammen mit anderen Protestierenden, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen, das die japanische Regierung herunterspielt und am liebsten ganz verschweigen will. Die Bewohnerinnen des Wohnheims „House of Sharing“ sind heute weit über neunzig und leben seit den 1990er-Jahren zusammen. Sie alle sind Überlebende des sogenannten „Trostfrauen“-Systems, das Japan in der Zeit des Asien-Pazifik-Krieges zwischen 1937 bis 1945 installierte. Japanische Soldaten verschleppten in diesem Zeitraum systematisch junge Mädchen und Frauen, größtenteils aus Korea, aber auch aus Taiwan, China, Malaysia oder von den Philippinen in die Zwangsprostitution. Um die Moral der Soldaten hochzuhalten, um Geschlechtskrankheiten einzudämmen, um den Gegner zu demütigen. Eine gängige Kriegspraxis, doch selten so effizient systematisiert. Die Zahlen darüber, wie viele Frauen und Mädchen in die japanische Zwangsprostitution verschleppt wurden, variieren. Manche Quellen sagen dreißig andere sprechen von bis zu 300.000. Es ist schwierig, das zu rekonstruieren. Zum einen, weil viele der Frauen noch während des Krieges an Infektionen, Hunger, den Folgen der andauernden Vergewaltigungen starben oder sich selbst töteten; man geht davon aus, dass nur ungefähr 30 Prozent aller Verschleppten überlebten. Zum anderen haben die, die überlebten, jahrzehntelang geschwiegen. Denn Gewalt im Allgemeinen und sexualisierte Gewalt im Speziellen lässt die Menschen, denen sie angetan wurde, verstummen. 1991 sprach Kim Hak-sun zum ersten Mal im koreanischen Fernsehen über die Verbrechen der japanischen Armee (erst 2008 wurde Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten von der UN offiziell als Kriegsverbrechen verurteilt). Daraufhin begannen auch andere Frauen öffentlich über das, was sie ertragen mussten, zu sprechen. 1992 begann der bis heute anhaltende Protest vor der Botschaft Japans in Seoul mit den Worten: „Es ist die japanische Regierung, die sich schämen muss, nicht wir!“ Sie fordern Anerkennung, Aufarbeitung und Entschädigungszahlungen von offizieller japanischer Seite. Erst im Januar diesen Jahres wurde Japan von einem südkoreanischen Gericht zu Schadensersatzzahlungen in Höhe von umgerechnet jeweils 75.000 Euro an zwölf Frauen, von denen noch fünf leben, verurteilt. Japan lehnt die Klage mit Verweis auf völkerrechtliche Grundlagen ab. Dennoch ist allein die Klage schon als Erfolg zu betrachten. Auch weil es den Fall wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückt.
Die Bewohnerinnen des „House of Sharing“ versammeln sich bei den wöchentlichen Protesten um die Friedensstatue des koreanischen Künstlerpaares Kim Eun-Sung und Kim Seo-Kyung, die seit 2011 vor der Botschaft steht. Sie zeigt ein junges Mädchen, das, die Hände gefaltet auf einem Stuhl sitzt. Der Stuhl neben ihr ist frei. Solche Friedensstatuen sind an verschiedenen Orten in der ganzen Welt zu sehen, um auf das Schicksal der Frauen aufmerksam zu machen.
Die Proteste und die Statuen sind Wege, die Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit und das eigene Trauma wiederzuerlangen. So eine Friedensstatue ist im September vergangenen Jahres in Berlin-Moabit durch den deutsch-koreanischen Korea Verband installiert worden. Woraufhin die japanische Regierung die Berliner Senatskanzlei zur Entfernung drängte. Immer wieder versucht die japanische Regierung, unliebsame Themen, denen sich Künstler widmen, zu zensieren. So gab es bei der Aichi Triennale einen Aufruhr und Drohungen, weil die Friedensstatue dort gezeigt wurde. Bei der Hiroshima-Biennale, die im September vergangenen Jahres hätte stattfinden sollen, wollte man ein staatliches Komitee einsetzen, das über passende und unpassende Kunstwerke entscheiden sollte. Einen ähnlichen Umgang mit den Betroffenen kann man bei der Atomkatastrophe von Fukushima sehen. Anstatt sich mit dem kollektiven Trauma der Menschen auseinanderzusetzen, droht die Regierung immer wieder, finanzielle Hilfen zu entziehen, wenn man bestimmte atomkritische Arbeiten bei verschiedenen Ausstellungen nicht entfernen würde. So unter anderem geschehen bei einer geplanten Präsentation im Foyer der Vereinten Nationen in New York. Man schweigt, verharmlost und enthält so den Opfern die Aufarbeitung und finanzielle Entschädigung vor.
Man kann das erlebte Unrecht nicht wiedergutmachen. Man kann niemandem sein Leben zurückgeben. Aber man kann den Opfern ihre Stimme wiedergeben; man kann das Leiden anerkennen und sichtbar machen. Wenn eine Aufarbeitung von offizieller Seite ausbleibt, dann ist eine Auseinandersetzung, die den Opfern auf künstlerische Weise ihre Würde, Deutungshoheit und so die Möglichkeit zum Umgang mit dem eigenen Trauma zurückgibt, umso wichtiger. Dabei verändert sich auch die öffentliche Wahrnehmung der Frauen. Von kollektiven Opfern werden sie zu eigenständigen Individuen, die ihre Rechte einfordern.
Der japanische Fotograf Tsukasa Yajima hat von 2003 bis 2006 bei den Überlebenden des „Trostfrauen“-Systems im „House of Sharing“ gelebt. Es sind die persönlichen Schicksale einer kollektiven Erfahrung, die Yajima in seinem Projekt Face to Face zusammenträgt. Er hat nicht nur Fotografien der Frauen angefertigt, er hat sie auch gebeten, ihr Lieblingslied zu singen. So bleibt ihr Bild nicht eindimensional, sondern fächert sich auf und zeigt all die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeiten, die sonst hinter der Gewalterfahrung verschwinden. In ihrem Gesang eignen sie sich ihre Stimme und ihre Geschichte wieder an.
Er hat die Frauen in selbstbestimmten Posen fotografiert. Alle stehen aufrecht, sind sorgfältig gekleidet und schauen direkt in die Kamera. Die Bilder zeigen alte Frauen, mit krummen Beinen und Gesichtern, in die sich das Leben eingefurcht hat. Die Lieder, die sie singen, sind so unterschiedlich wie sie selbst. Gemeinsam mit dem Anthropologen Joshua D. Pilzer hat Yajima sie aufgenommen und übersetzt. Manche singen Volkslieder, andere alte japanische Militärlieder oder Lieder, die sie noch aus ihrer Kindheit kennen und die sie umgewandelt haben, um ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Äußerlich zeigt sich nichts von den mutigen Geschichten, die Yajima und Pilzer zu den Bildern und Liedern aufgeschrieben haben. Es sind kurze Biografien mit erschreckenden Details über ihre Flucht und die meist schwierige und langwierige Rückkehr nach Korea. Aber auch Rührendes über die Persönlichkeiten und Vorlieben der in Korea ‚Halmonis‘ – Großmütter – genannten Frauen. Dort liest man von den Hunden und Hasen, um die Yi Yong-nyeo sich, nachdem sie aus dem „House of Sharing“ ausgezogen ist, gekümmert hat. Davon, dass sie selbst Gemüse anbaute und sich als Meisterbäuerin bezeichnete, bis sie 2008 starb. Man liest von der sehr verschlossenen Bae Chun-hui, die erst 1951 über etliche Umwege wieder zurück nach Korea kam. Man liest aber auch, dass die 2014 Verstorbene Kinder und Tiere sehr mochte und am liebsten melodramatische und romantische Filme sah. Oder man erfährt von Kim Sun-deok, die schon 2004 gestorben ist und die Blume, die heute das Symbol der Proteste ist, gemalt hat. Als Kind wollte sie traditionelle Unterhalterin werden und besuchte eine Kunstschule, weswegen ihr Gesang besonders professionell ist. Die vielfältigen potenziellen Leben, um die sie alle betrogen wurden, entfalten sich. Die Lieder, die sie singen, handeln von Liebe, Heimkehr, Hoffnung – vom Frühling, der die Blumen wieder blühen lässt, vom Altwerden und vom Vergehen der Zeit. Und immer wieder liest man, dass sie sich erst getraut haben zu sprechen, als andere gesprochen haben. Im gemeinschaftlichen Sprechen konnten sie ihre individuellen Stimmen finden. Die künstlerische Auseinandersetzung gibt den Überlebenden die Möglichkeit, eine neue, eine andere, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eine, die nicht nur von der Gewalt, die ihnen angetan wurde, bestimmt ist. Auch wenn sie es ist, die ihr Leben prägt. Yajima und Pilzer zeigen in der dokumentarischen Arbeit, dass hinter einem kollektiven Leid immer individuelle Personen mit Träumen, Wünschen, Vergangenheit und Zukunft stehen.
Bald werden auch die letzten Frauen, die um 1920 bis 1930 geboren wurden, nicht mehr leben. Umso wichtiger ist und bleibt die gesellschaftliche Auseinandersetzung und das aktive, gemeinschaftliche Erinnern. Denn nur gemeinsam kann man die Einsamkeit und Stille der Gewalt überwinden.