Wir leben im „Zeitalter der Krise“. Es gibt mittlerweile keinen einzigen Bereich unseres Lebens mehr, der nicht in Unordnung geraten ist. Es scheint, als erwachten wir jeden Tag inmitten einer neuen undenkbaren Krise: Demokratie, Wirtschaft, Klima, Migration, Privatsphäre, Technologie und Information, was auch immer! Und dann kommt zu allem Übel auch noch die COVID-19-Pandemie, eine beispiellose globale Gesundheitskrise, die die Welt zum Stillstand gebracht hat. Wir sind Zeug*innen schlechter Zeiten, die noch viel Schlimmeres versprechen. Tagein, tagaus beweisen Wissenschaftler*innen, wie die kaputten Systeme der Menschheit den Planeten tatsächlich um des Fortschritts und des Wohlstands willen zerstören – und zwar in einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß, das wir kaum begreifen können. Es besteht breiter Konsens darüber, dass wir auf einen großen Crash zusteuern! Und wir haben keine Ahnung, wie wir ihn verhindern können. Das Problem ist, dass sich einige von uns allmählich daran gewöhnen und denken, „Die Dinge sind eben, wie sie sind“, und das Handtuch werfen. Verständlicherweise. „Die sich überlappenden Krisen haben eine erodierende Wirkung auf uns alle gehabt; auf unsere Nerven, unsere Hoffnungen und unsere Entschlossenheit“, meint etwa die vielgepriesene Designkuratorin Paola Antonelli. „Zeit für einen Neustart.“ Aber wie? Es gibt keinen Reset-Knopf, um diesen Wahnsinn zu beenden. Aber es gibt Hoffnung – durch kollektives Handeln und eine kollektive Neuvernetzung. Um kreativ über die Zukunft nachzudenken, braucht es Hoffnung und Optimismus. Angst lähmt uns meist. Dies ist der Hauptgrund, warum wir uns am neu gegründeten Design Campus und in dessen Summer School der Utopie gewidmet haben.
Die Utopie ist eine wirkmächtige Idee. Und visionäre und unrealistische Ideen sind es, die die Welt vorantreiben. Es war der Traum vom Fliegen, von der Heilung von Krankheiten, von Telekommunikation, der Entdeckung ferner Länder oder davon, in einer gerechteren Gesellschaft zu leben, der Männer und Frauen dazu getrieben hat, Risiken einzugehen und unseren Weg bis hierhin zu gestalten. „Alle Utopien stellen Fragen. Sie fragen danach, ob unsere Lebensweise verbessert werden könnte, und antworten, dass dies der Fall sei. Die meisten Utopien vergleichen das Leben in der Gegenwart mit dem Leben in Utopia, zeigen auf, was an unserer jetzigen Lebensweise falsch ist, und schlagen vor, wie wir unser Leben verbessern könnten“, schreibt Lyman Tower Sargent in seinem einflussreichen Buch Utopianism. „Utopismus ist soziales Träumen“, erklärt er.
Die Designgeschichte ist vom utopischen Denken durchdrungen. Seit Beginn der Industrialisierung setzten Designer*innen sich mit sozialen Fragen und der Lebensqualität auseinander. So träumte beispielsweise die Arts-and-Crafts-Bewegung unter der Führung von William Morris von einer besseren Gesellschaft, indem sie die Rückkehr zur Natur und zu handgefertigten Objekte anpries, um dem Fortschreiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entgegenzuwirken. Der Modernismus der 1920er- und 1930er-Jahre wiederum leistete Le Corbusiers Vorstellungen vom sozialen Wohnungsbau ebenso Vorschub wie dem intensiven Sozialprogramm von Moholy-Nagy und der vollständigen Übernahme industrieller Technologien als Grundlage zur Schaffung funktionaler Produkte und Häuser, die von der weltweit berühmtesten Designschule, dem Bauhaus, gelehrt und weiterentwickelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Aufkommen der Postmoderne vom gleichzeitigen Verschwinden utopischer Überzeugungen begleitet – eine Reaktion auf den Totalitarismus, die soziale Repression und die enormen Umweltprobleme, die der bedingungslose Glaube an den technischen Fortschritt verursacht hatte. Zum Ideal der Postmoderne wurde das Versprechen an die grenzenlose menschliche Pluralität, anpassungsfähige Produkte und die Akzeptanz aller singulärer Lebensweisen. Der Individualismus und personalisierbare Produkte sind ein Ergebnis der Postmoderne. Doch wie sollten wir die Zukunft heute, angesichts allgegenwärtiger digitaler Technologien und des Kollapses unserer Umwelt, neu entwerfen?
Dem Design kommt in der Gesellschaft eine Schlüsselrolle als Motor des Wandels zu – in sozialer, politischer, ökonomischer, wissenschaftlicher, technologischer, kultureller und ökologischer Hinsicht. Dank der Auswirkungen digitaler Technologien auf unser alltägliches Leben können wir die Supermacht des Designs besser denn je verstehen. Dabei geht es sicherlich nicht nur um die Möglichkeit, Produkte zu verschönern oder mehr von ihnen zu verkaufen. Es geht um die Macht, unser Verhalten zu verändern. Und zwar in massiver Weise. Zum Besseren oder zum Schlechteren. Denken Sie mal darüber nach. Wie war Ihr Leben vor 2007, als das erste iPhone auf den Markt kam? An ein Leben ohne Smartphones können wir uns kaum noch erinnern. Designer*innen sollten sich dieser Macht bewusst sein. Und die Verantwortung dafür übernehmen.
Es gibt keinen Raum mehr für unbeabsichtigte Folgen von „gutem“ Design. Und es gibt keine einfachen Antworten mehr auf komplexe und systemische Probleme. In diesem kritischen Zusammenhang entstand am Kunstgewerbemuseum das Konzept für den Design Campus und seine Summer School als Teil der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Der Schwerpunkt des Kunstgewerbemuseums liegt auf Angewandter Kunst, Handwerk und Design. Museen als solche wurden erstmals während der ersten industriellen Revolution als zukunftsweisende Ausbildungsplattformen erdacht. Sie dienten zur Schulung von Fachleuten, Industriellen und der Öffentlichkeit – von Augen und Geschmack gleichermaßen – darin, was als „gutes Design“ oder gute industrielle Produkte gelten solle. Diese Museen waren an Schulen angeschlossen, wie beispielsweise das Victoria and Albert Museum (V&A) und das Royal College of Arts in London sowie das Museum für Angewandte Kunst (MAK) und die Universität für Angewandte Kunst („die Angewandte“) in Wien. Museen für Angewandte Kunst wurden nicht als Museen der Kontemplation erdacht, wie beispielsweise Kunstmuseen. Im Gegenteil, sie sollten Standards und sogar – wage ich zu behaupten – eine politische, soziale und ökonomische Agenda setzen. Solche Museen warben offen für den konsumorientierten Lebensstil, der die Industrialisierung und den Kapitalismus beförderte. Museen sind daher also Teil des Problems. Können wir aber auch Teil der Lösung sein?
„Das Kunstgewerbemuseum kehrt mit dem Design Campus fast 150 Jahre nach seiner Gründung 1876 zu seinen Wurzeln als Lehr- und Bildungssammlung zurück. Damals eine Reaktion auf die Umwälzungen der Industrialisierung wird das Gründungskonzept vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformation durch Digitalität und Klimawandel für das 21. Jahrhundert neu aufgesetzt – als ein Ort und Schule für Utopien.“, sagt Thomas A. Geisler, Direktor des Kunstgewerbemuseums. Der Design Campus als eine kuratorisch entwickelte, interdisziplinäre und zukunftsorientierte Plattform, um die wichtigsten globalen Fragen mithilfe von Designpraxis und -kultur neu zu durchdenken. Als ein Ort der Neukalibrierung, Bildung und Befähigung kreativer Praktiker*innen, damit diese auf die zahlreichen Veränderungen, Herausforderungen und Unwägbarkeiten des 21. Jahrhunderts antworten können. Und das Sommerprogramm des Design Campus als eine „Schule der Utopien“ – eine visionäre Designschule, die komplexe Probleme erforschen, mutige Ideen erträumen und gemeinschaftlich neue Wege in die Zukunft ebnen soll.
Die Prämisse des Design Campus ist, dass wir an die Macht des Designs bei der Veränderung der Welt zum Besseren hin glauben. Die Krise der Welt jedoch kann keine Disziplin allein heldenhaft besiegen. Wir akzeptieren daher vor allen Dingen die Komplexität der Welt. Und, dass wir Silos aufbrechen, intelligent zusammenarbeiten und Wissen aus verschiedenen Disziplinen zusammentragen müssen, um dieses Chaos zu entwirren. Darüber hinaus glauben wir, dass es an der Zeit ist, Verantwortung zu übernehmen. Sie und ich, wir sind nun an der Reihe, uns zu kümmern. Und vor allem: zu handeln!
Eine Designausbildung, Wissensaustausch und Forschung sind für jedes zielbewusste Handeln unabdingbar. Wir glauben, dass dies der richtige Weg ist, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen und weitreichende Probleme wie den Klimawandel oder eine globale Pandemie, wie wir sie gerade erleben, anzugehen. Indem wir uns einer utopischen Vision verschreiben, wollen wir keineswegs die Realität abtun. Die Utopie wird, per Definition, nie erreicht. Sie kann aber sicherlich als Werkzeug zur Neukonzeption besserer Zukunftsszenarien dienen und uns alle ein paar Schritte in die richtige Richtung bringen.