Manche Beobachter*innen verstehen den Auftritt Angelis als ein Beispiel für politisches „cosplay“, das mit dem Kostüm Klicks generieren will, um den politischen Ansichten eine größere Öffentlichkeit zu verschaffen. Es ist unklar, ob Angeli die Außenwirkung des Kostüms ausdrücklich noch durch sein mitgeführtes Megafon (eng.: bullhorn) verstärken wollte (soziale Medien werden oft auch als das Megafon der Online-Medienwelt verstanden). Andere diskutieren, ob das Kostüm nun einen Wikinger oder einen „Indianer“ darstellen soll, ob die Elemente historisch-ethnographisch korrekt seien, und inwieweit Angeli damit kulturelle Aneignung betreibe. Er selbst erklärt seine Kopfbedeckung mit Bezügen zu indigener Kultur: zum amerikanischen Bison, dem sich keiner ohne Lebensgefahr in den Weg stellen kann, und zum Coyoten, den indigene Kulturen als listig verehren.
Hier wird die Aneignung im „Selbstbedienungsladen“ kultureller Bezüge offensichtlich, denn tatsächlich verwendeten einige der Präriekulturen bis zur Reservationszeit Büffelhörnerhauben, um Krieger mit besonderen spirituellen Fähigkeiten auszuzeichnen. Der Coyote ist in Schöpfungsmythen und moderner Literatur ein wichtiger Kultur-(anti-)heros, der als „Trickster“ mit List, Faulheit und Übermut immer wieder das Gleichgewicht des Kosmos durcheinanderbringt.
Wichtiger jedoch als die Frage nach kultureller Aneignung an sich ist, wie dieser Verweis auf indigene Kulturen eingesetzt wird, um politische Ideologie zu verbreiten. Dass sich Euroamerikaner als „Indianer“ verkleiden, ist nicht neu – die Kolonisten, die 1773 in Boston aus Protest gegen die britische Handelspolitik Schiffe stürmten und Kisten mit Tee ins Hafenbecken warfen, trugen Federhauben. In der kulturellen Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg wird bis heute darauf hingewiesen, dass die Aufständischen in der Wildnis „wie Indianer“ kämpften, so dass sie die Briten, die mit dem Gelände nicht vertraut waren, besiegen konnten.
Die Anspielung auf „Indianer“ als Opfer illegaler Einwanderung war in den USA lange ein Argument indigener und linker Aktivist*innen, die Fremdenfeindlichkeit mit dem Bezug auf die Landung der ersten englischen Siedler*innen angriffen: „Who is the illegal immigrant here, pilgrim“?! In Europa, besonders in Deutschland, förderte das Bild des von Fremden überrannten „Indianers“ seit dem 19. Jh. antiamerikanische Argumente und gipfelte während des Nationalsozialismus in der Behauptung, nach den "Indianern" seien nun die Deutschen die nächsten Opfer amerikanischer Scheinheiligkeit und Brutalität. Sobald US-Medien gegen die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland protestierten, konterte Goebbels‘ Propaganda mit Verweis auf das Schicksal der „Indianer“. So titelte etwa ein Text der Monatszeitschrift Koralle 1941: „Amerika, kehre vor Deiner eigenen Tür“!
Im deutschen Nationalismus entstanden auch bizarr vermengte Vorstellungen über „Indianer“ und „nordische“ Germanen, die oftmals eine Seelenverwandtschaft, wenn nicht gar ur-arische Blutsverwandtschaft zwischen Deutschen und „Indianern“ behaupteten. Ähnliche Positionen und verzerrte historische Vergleiche finden sich unter heutigen Rechten in Deutschland – etwa in der Gleichsetzung des alliierten Bombenkriegs mit der Vernichtung indigener Dörfer und der fast vollständigen Ausrottung der Bisons. In den letzten 15 Jahren wird der Verweis auf die indigene Kolonialgeschichte immer wieder genutzt, um vermeintliche „Überfremdung“ in Deutschland anzuprangern: „Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen, und heute leben sie in Reservaten“, sind demnach also Menschen zweiter Klasse und ethnische Minderheit im eigenen Land. Solche Aussagen finden sich in der Wahlwerbung rechter Parteien, auf Karnevalswagen, in Internet-Memes und auf Stickern und T-Shirts. Sie sind auch längst nicht mehr auf Deutschland beschränkt – man sieht das Motiv in Österreich, der Schweiz, Ungarn, Italien und in Diskussionen um den Brexit in Großbritannien.
Das Einwanderungsargument scheint von vielen Rechten strategisch eingesetzt zu werden. So hat der norwegische Attentäter Breivik in seinem Manifest (2011) erklärt, dass man niemanden „für die Sache“ gewinnen könne, wenn man Hitler als Helden zeigt, weil seinetwegen die Vorstellung von „Supremacy“ (auf „Rasse“ gegründete Vorherrschaft) nicht mehr akzeptabel sei. Stattdessen sollten europäische Nationalist*innen eine Opferperspektive einnehmen und sich mit dem Widerstand einer Minderheit identifizieren, sich selbst also statt auf Hitler lieber auf Sitting Bull und Crazy Horse beziehen.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich seit einigen Jahren etwa Waffenrechts-Aktivist*innen in den USA als Opfer repressiver Politik darstellen und sagen, die „Indianer“ seien untergegangen, weil sie keine (Feuer-)Waffen hatten. Der Attentäter von El Paso, Texas (2019) schrieb in seinem Manifest, dass die „Indianer“ sich nicht gegen illegale Einwanderung wehren konnten, und die weißen Amerikaner*innen heute daraus lernen und mit Gewalt gegen Einwanderung und Geflüchtete an der Grenze zu Mexiko vorgehen müssten (er war sich der historischen Ironie dieser Argumentation offenbar nicht bewusst). Der bizarre Aufzug von Jake Angeli setzt also eine Entwicklung fort, die innerhalb nationalistischer Gruppen eine lange Tradition hat, in den USA allerdings erst seit ein paar Jahren so zu beobachten ist. Bei allen karnevalesken Zügen, die die Performance aufweist, muss sie zuallererst als ein weiteres Zeichen der fortschreitenden Internationalisierung der rechtsextremen Szene erkannt und benannt werden. Und als eine Praxis, die in Deutschland auf eine weit längere Geschichte zurückblicken kann. Die Bilder der Erstürmung des Kapitols sind dann eben auch deswegen so verstörend, weil die rechtsextreme Gewalt, die sich hier bahngebrochen hat, genauso auch zum Alltag der deutschen Gesellschaft gehört.