Kawaleridses "Prometheus": Ukrainer*innen, Frösche und das Kino des Sozialistischen Realismus 08. Mai 2023

Iwan Kawaleridse hat eine bedeutende Rolle in der ukrainischen Kultur gespielt. In der heutigen Ukraine ist sein Name allerdings kaum bekannt und im Ausland haben überhaupt nur sehr wenige Menschen von ihm gehört. Er wurde 1887 in der Ukraine geboren und 91 Jahre alt. Er war von georgischer Abstammung, sprach und schrieb auf Russisch und war geradezu besessen von der griechischen Mythologie und den ukrainischen Dichtern und Philosophen der Romantik. Taras Schewtschenko und Hryhorii Skovoroda gehörten zu seinen Favoriten.

Er war einer der ersten ukrainischen Filmregisseure überhaupt, die historische Filme über die revolutionäre Ukraine und auch über die vorrevolutionäre Zeit drehten. Im Jahr 1929, in dem er sein Debüt als Filmregisseur gab, war Kawaleridse bereits ein anerkannter Bildhauer. Er hatte in Paris zusammen mit Oleksandr Arkhypenko studiert, einem Kiewer Klassenkameraden, Avantgardekünstler und Bildhauer. Im Jahr 1918 hatte er das erste große postrevolutionäre Taras-Schewtschenko-Denkmal für die Stadt Romny geschaffen. Schewtschenko war auch der Autor der beiden Gedichte Kaukasus und Der Traum, die Inspiration für die filmische Idee von Prometey („Prometheus“) waren, geschrieben als Meditation über die russischen imperialistischen Kriege im Kaukasus. Er ist auch als Urheber zweier konstruktivistischer Betonskulpturen von Artjom in Bakhmut (1924) und Sviatohorsk (1927) bekannt. Die erste wurde während der Nazi-Besatzung zerstört und ist nur noch in Filmen zu sehen (in Kawaleridse's Perekop und Dziga Vertov's Enthusiasmus (Donbass-Sinfonie) (UdSSR, 1931)). Das zweite Denkmal steht noch immer und hat die russische Invasion überlebt.

Kantige Skulptur eines Mannes, dessen rechtes Bein gewinkelt auf einer Stufe steht, was ihm eine kühne Haltung verleiht. In der rechten Hand hält er einen Krug.

Sechs Jahre nach seinem ersten Spielfilm wurde Kawaleridse zu Ehren des fünfzehnten Jahrestages des sowjetischen Kinos mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichnet. Bis dahin hatte er fünf Spielfilme gedreht: The Downpour (1929), Perekop (1930), Shturmovye nochi (1931), Koliivshchyna (1933) und Prometheus (1936). Allen wurde vorgeworfen, sie seien zu statisch, nicht "filmisch" genug.

Filmstill in Schwarzweiß, das zwei Soldaten in Profilansicht zeigt. Der eine sitzt, der andere steht und hat ein Bein auf ein Podes (einer der grauen Blöcke im Text) gestellt, was ihm eine kühne Haltung verleiht. In der rechten hand hält er einen Becher. Sie sind nach links gewandt und schauen in die Ferne.

Sein Filmdebüt The Downpour erzählt die Geschichte von Koliivshchyna, einem Volksaufstand der Haidamaky, ukrainischen paramilitärischen Einheiten, gegen Polen-Litauen im 18. Jahrhundert. Kawaleridse beschrieb Downpour als "filmisches Experiment" und drehte den gesamten Film in einem Pavillon von der Größe eines Fußballfeldes. Damals galt Oleksandr Dowzehnkos Arsenal (1929) als der verworrenste ukrainische Film, doch nach der Vorführung von Downpour schrieb ein Filmkritiker, dass Arsenal im Vergleich verständlich und geradezu simpel wirke.

Der Film kam im März 1929 in die Kinos, wurde von der VUFKU (Gesamtukrainische Foto- und Filmverwaltungsbehörde) stark beworben und als Errungenschaft des ukrainischen Experimentalfilms gepriesen. Doch die proletarische Arbeiterschaft war alles andere als zufrieden, als sie den Film sah. Man konnte sich nicht auf die Idee einer Revolution, die von schwarzen Würfeln und statischen Figuren geführt wurde, einlassen. Für die Anhänger der Proletkult war der Film zu symbolisch und zu langsam. Kurz nach der Premiere wurde er von den Moskauer Behörden verboten, womit auch das Schicksal der nachfolgenden Kawaleridse-Filme vorweggenommen wurde.

Sehr altes Schwarzweiß-Bild: Ein Mann zeiht einen Pflug großen Pflug, daneben steht ein weiterer und trägt eine Art Holzgespann, das vermutlich dazu dient, Tiere vor den Pflug zu spannen. Das ganze ist in einer recht flächig wirkenden Profilansicht zu sehen, der Raum ist nicht genauer bezeichnet. Die Wand im Hintergrund ist, ebenso wie der Boden, eine homogene, graue Fläche.

Der nächste Film Perekop widmete sich den Ereignissen der jüngeren Geschichte, nämlich der Operation Perekop-Tschongar (1920), in deren Verlauf die Rote Armee die Krim eingenommen hatte und, gemäß der sowjetischen Geschichtsschreibung, den "Bürgerkrieg" gewann. Der Film, der wegen seines Mangels an Handlung und seines unkonventionellen Gebrauchs visueller Effekte kritisiert wurde, sollte von einem erläuternden Kommentar begleitet werden, der Kawaleridses breit angelegte Analogien zu einer klaren und ideologisch legitimierten Erzählung zusammenführen sollte.

Im Jahr 1927 wurde mit dem Bau des Wasserkraftwerks DniproHES begonnen, was von vielen Regisseuren sofort als episches Filmereignis aufgenommen wurde. Kawaleridse war da keine Ausnahme und schuf seinen dritten Film Shturmovye nochi ("Stürmische Nächte"). Trotz der hochkarätigen Besetzung und des opportunen Themas wurde auch dieser Film schließlich verboten.

Sein erster Tonfilm, Koliivshchyna, wurde ebenfalls schnell aus dem Verleih genommen, nachdem Kawaleridse das Drehbuch auf Druck der Parteiführung ganze 17 Mal umgeschrieben hatte. Er war als Teil eines groß angelegten Trilogie-Projekts über drei Jahrhunderte des Befreiungskampfes in der Ukraine geplant gewesen, dem zwei weitere Filme folgen sollten: Prometheus und Dnipro. Die "Befreiungs-Trilogie" fand jedoch mit Prometheus, der im Kiewer Filmstudio gedreht wurde, ihren Abschluss. Der Film handelt von ukrainischen Bauern, die unter der Leibeigenschaft im Russischen Kaiserreich leiden. Ein Gutsherr schickt seinen Leibeigenen Ivas, unseren Protagonisten, als Soldat in den Kaukasus, während Ivas' Braut gezwungen wird, in ein Bordell zu gehen. Unter dem Einfluss des Revolutionärs Gawrilow wird Ivas zu einem Freiheitskämpfer und startet nach seiner Rückkehr ins Dorf einen Bauernaufstand.

Ein Mann ist an sich kreuzenden Stützbalken unter dem Dach eines einfachen Hauses festgebunden.

Das scheint auf den ersten Blick im Einklang mit der sowjetischen Politik zu stehen, doch der Film löste sowohl in der Republik als auch in der übrigen Sowjetunion Empörung aus. Um den Grund für die Prometheus-Kontroverse zu verstehen, müssen wir ins Jahr 1932 zurückgehen. Damals löste der stalinistische Sozialistische Realismus die utopistische Revolutionskultur der 1920er Jahre ab und prägte die Zukunft der sowjetischen Kunst fast bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Sozialistische Realismus berief sich nicht nur auf die klassische Tradition der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, sondern auch auf eine "nüchterne", nicht utopistische Lebensauffassung. Mit dieser Perspektive wurde der Sozialistische Realismus als eine "realistische" Reaktion auf das Scheitern der modernistischen Experimente und die zukunftsorientierten Projekte der sozialistischen Kunst vor Stalin in Position gebracht. Den Verfechter*innen des Sozialistischen Realismus zufolge muss die sowjetische Kunst die klassizistischen Einheiten von Zeit, Ort und Handlung wiederherstellen, die von der Poetik des Aristoteles inspiriert sind.

Aber hierbei ging es nicht nur um Poetik, sondern auch um Politik, denn der Sozialistische Realismus war ein offenkundig polit-ästhetisches Projekt. Wie Boris Schumjatskij, der Leiter der sowjetischen Filmindustrie, 1936 verkündete, sind formalistische Filmregisseure die schlechtesten Geschichtenerzähler, weil sie keine feste und ideologisch kohärente Weltanschauung haben. Vor diesem Hintergrund wurde es den sowjetischen Filmemachern "empfohlen", avantgardistische Experimente mit Bildern und Geschichten abzulehnen und Filme in klassischer, fast Hollywood-artiger Tradition zu machen. Stalin war ein großer Fan des amerikanischen Kinos. Geradlinige Handlungsstrukturen, klare ideologische Botschaften und die scharfe Konfrontation zwischen den guten und den bösen Parteien sind die ikonischen Zutaten eines beispielhaften sowjetischen Films aus der Stalinzeit und darüber hinaus. Bis 1936 waren diese ästhetischen Leitlinien zur politischen Norm geworden. Im Januar veröffentlichte das Zentralorgan Prawda einen Artikel "Verwirrung statt Musik", in dem Dmitri Schostakowitschs Oper Lady Macbeth aus dem Bezirk Mzensk von den Moskauer Behörden heftig kritisiert wurde. Im Nachhinein wurde damit eine ideologische Kampagne gegen den Formalismus ("Vorherrschaft der Form über den Inhalt im Kunstwerk") eingeleitet.

Kawaleridse begann die Dreharbeiten zu Prometheus schon lange vorher und in einem weniger feindseligen Umfeld. Die Herangehensweise an den Film ähnelte derjenigen, die er auch zuvor verfolgt hatte. Indem er sich von den Konventionen des Realismus entfernte, schaffte Kawaleridse eine sehr statische und kontrollierte Umgebung, in der Licht und Schatten viel wichtiger waren als die Bewegungen der Kamera.

Ein Foto von den Dreharbeiten an Prometheus. Im Hintergrund ist die Filmkulisse zu sehen, die wie auf einer Theaterbühne mit Gebäuden bestellt und einem großen Gemälde hinterlegt ist. Oben sind die Schweinwerfer zu sehen im Vordergrund stehen zwei kostümierte Schauspieler und die Kameraleute.

1934 lobten ukrainische Filmemacher das Drehbuch von Prometheus, weil es von hoher künstlerischer Qualität sei und den ausbeuterischen Charakter des feudalen zaristischen Russlands und seiner Kolonisierungspolitik offenlege. Das Drehbuch wurde genehmigt und die Produktion erhielt grünes Licht. Ein Jahr später änderte sich das politische Klima erheblich und eine ideologisch korrekte Handlung über den revolutionären Kampf gegen die zaristische Unterdrückung reichte nun nicht mehr aus, um den Film vor Kritik zu bewahren. Das Vorgehen bei den Dreharbeiten wurde nun ebenfalls entscheidend. Zu dieser Zeit wurde die Geschichte neu geschrieben: Das Engagement für das revolutionäre Moment und die Faszination für den Kampf des Volkes wurden durch die Rehabilitierung der zaristischen Autokratie aufgehoben. In Peter der Große (Petrov, UdSSR, 1937) und Alexander Newski (Eisenstein, UdSSR, 1938) sind die Bilder des starken Führers, die Stalins quasimonarchistische Politik legitimieren sollten, nur allzu leicht zu erkennen. Dass die Staatsbeamten wollten, dass der bereits gefilmte Prometheus umgeschnitten werden sollte, um der neuen politischen Agenda zu entsprechen, überrascht also nicht. Er war zu anachronistisch, zu sehr den Idealen der Revolution verpflichtet und zu sehr auf einen einfachen Mann konzentriert.

Der Anachronismus des Films von Kawaleridse spielt sich auch auf einer anderen Ebene ab: der sprachlichen. Die zwei Tonfilme - Koliivshchyna und Prometheus - sind die vielleicht auffälligsten Beispiele für das Phänomen der filmischen "Mehrsprachigkeit". Die verschiedenen Nationalitäten und ethnischen Minderheiten in diesen Filmen sprechen ihre Muttersprachen, sei es Ukrainisch, Russisch, Polnisch oder Jiddisch. Aber irgendwie gelingt es ihnen, eine gemeinsame Basis und Verständigung zu finden. Um die Verwendung dieser künstlerischen Technik in Prometheus zu rechtfertigen, behauptet Kawaleridse, dass alle Figuren im Film zwar ihre eigene Sprache sprechen, eigentlich aber dieselbe Sprache, die Sprache der kommenden Revolution nämlich. Die Erwartung sei, dass die Sowjetunion trotz aller Unterschiede zwischen ihren Bürgern ein Raum des gegenseitigen Verständnisses ohne Widersprüche sein wird.

Allerdings entsprach die gesellschaftliche Realität nach der Revolution diesen Erwartungen nicht. Die Gleichheit der Völker und der kulturelle Pluralismus wurden durch eine neue Asymmetrie ersetzt, die durch den Stalinismus legitimiert wurde – die Russifizierung. In der neuen politischen Ordnung würde nur ein ausschließlich in russischer Sprache gedrehter Film des Sozialistischen Realismus für den Vertrieb zugelassen werden. Sogar Stalin selbst, der im wirklichen Leben mit starkem georgischen Akzent sprach und sich als Führer aller Völker der UdSSR darstellte, begrüßte die Darstellung seiner Rolle in dialektfreiem Russisch durch den Schauspieler Aleksei Dikiy in den Filmen Der dritte Schlag (Sawtschenko, UdSSR, 1948) und Die Schlacht um Stalingrad (Petrow, UdSSR, 1949).

Nach wenigen Monaten wurde Prometheus wegen Perversion der Realität, Formalismus und Naturalismus verboten. Die Kritiker bemängelten, dass die Figuren nicht überzeugend seien, dass das Tempo und der Rhythmus des Films insgesamt zu langsam, der Schnitt nicht motiviert genug und die Frösche zu naturalistisch wären. Um Filmprojekte zu verunmöglichen, reichte es von nun an aus, sie des bürgerlichen Nationalismus, des Naturalismus und des Formalismus zu bezichtigen. Niemand verstand, was diese Worte wirklich bedeuteten, aber sie wurden zu universellen Werkzeugen für den Angriff auf ideologische Gegner. Kein Wunder, dass Kawaleridse beschuldigt wurde, die Normen des Sozialistischen Realismus zu ignorieren, vulgäre soziologische Schemata zu gebrauchen, die Geschichte, die antisoziale Natur des Themas zu verzerren und durch die Verwendung grober naturalistischer Techniken und formalistischer Tricks den Film für den proletarischen Zuschauer unverständlich zu machen.

Aufnahmen aus Prometheus von zwei Fröschen. Die Aufnahme ist offenbar in einer Art Aquarium gemacht. Wir sehen die Wasserkante etwa auf 4/5 der Bildhöhe. Oberhalb sind lediglich die Maulspitzen der Frösche, deren Körper zum Großteil unter Wasser sind.

Einige ukrainische Filmkritiker sind davon überzeugt, dass Prometheus eine negative Reaktion von Joseph Stalin selbst hervorrief, der dafür bekannt war, das Filmrepertoire der UdSSR nach seinem eigenen Geschmack zu gestalten. Angeblich auf seinen persönlichen Befehl hin veröffentlichte die Zeitung Pravda am 18. Februar 1936 einen Leitartikel des in Odessa geborenen Mykhailo Koltsov (der Dziga Vertov in die Filmindustrie einführte) mit dem Titel "Ein grobes Schema statt historischer Wahrheit". Der Artikel sprach sich umfassend für die antiformalistischen Tendenzen im sowjetischen Kino aus.

Dennoch bleibt Kawaleridse's Prometheus einer der wichtigsten sowjetischen Filme der 1930er Jahre. Es lag nicht in der Natur der Sache, dass sich der Film im Zentrum der wichtigsten Antagonismen der entscheidenden Periode in der Geschichte der Sowjetunion befand. Wenn der Artikel "Verwirrung statt Musik" über die Oper Lady Macbeth aus dem Bezirk Mzensk in der Zeitung Pravda als der wichtigste Text über den Übergang zum Sozialistischen Realismus und zur stalinistischen Hegemonie in der Kultur gilt, so ist Prometheus das nicht minder ikonische Ziel der anti-formalistischen Kritik nicht nur des ukrainischen, sondern im weiteren Sinne des gesamten sowjetischen Kinos jener Zeit.

[aus dem Englischen übersetzt von Jacob Franke]

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