Marx' Kinder im Land von Hồ Chí Minh. Der Quang Trung Wohnkomplex in Vinh City, Vietnam 13. Oktober 2022

Ein Jahrzehnt voller unerbittlicher Luftangriffe der USA im von 1964 bis 1973 andauernden Vietnamkrieg zerstörte die Industriestadt Vinh in der nördlich-zentral gelegenen Provinz Nghệ An, der Wiege der Revolution und Heimat von Hồ Chí Minh, dem ersten postkolonialen Präsidenten von Nordvietnam. Die Massenbombardements mobilisierten nicht nur die vietnamesische Bevölkerung, sondern lösten auch Bewegungen anti-imperialistischer Solidarität in der gesamten sozialistischen Welt, einschließlich der DDR, aus. Gemeinsam mit anderen Ostblockstaaten erklärte sich die DDR auf Bitte der vietnamesischen Regierung nach dem Krieg bereit, Vietnam beim Wiederaufbau zu helfen. Ihre Modernisierungsaufgabe bestand gemäß der am 22. Oktober 1973 unterzeichneten Abschlussvereinbarung darin, beim allumfassenden „Entwurf und Aufbau der Stadt Vinh” zu helfen. Dies führte zum gemeinsamen „Aufbau des Sozialismus“ mit dem Ziel, die vietnamesische Nation zu einer modernen sozialistischen Industrienation zu machen.

Eine alte Fotografie des zerstörten Vinh. Im Vordergrund ziehen einige Personen einen Karren durch den Schlamm, ahinter sind Schuttberge und zerstörte Häuser zu sehen.

Die Unterstützung Nordvietnams (auch bekannt als Demokratische Republik Vietnam) war seitens der DDR von nationalen Interessen sowie von globalen Ambitionen motiviert. Nordvietnam war eines der ersten Länder, die bereits in den 1950ern Hilfe von Ostdeutschland erhielten, zu einer Zeit, als sich auch die Wirtschaft der DDR noch vom Zweiten Weltkrieg erholen musste. In den ersten Jahren der Dekolonialisierung von Vietnam richtete sich die Unterstützung der DDR, gemeinsam mit der Hilfe anderer sozialistischer Länder, auf die Modernisierung von Nordvietnam durch den Bau neuer Infrastrukturen und Industriebetriebe als Triebkräfte des postkolonialistischen Wachstums. Am Ende des Krieges mit den Vereinigten Staaten im Jahr 1975 war die DDR zu einem der größten Lieferanten von „sozialistischer Hilfe“ an Nordvietnam geworden – an zweiter Stelle nach der Sowjetunion.

Die Vernichtung von Vinh City durch die US-Bombenangriffe bot die Gelegenheit zur experimentellen Planung und Umwandlung der kleinen Industriestadt in eine sozialistische Modellstadt. Die ehrgeizige Aufgabe der DDR, der allumfassende Wiederaufbau, bestand in der gemeinsamen Arbeit an der Erstellung eines Masterplans und dessen Umsetzung in die Realität. Ihre ganzheitliche Herangehensweise an die Stadtplanung beinhaltete auch die Fokussierung auf eine neue städtische Infrastruktur, die Entwicklung der Bauindustrie, Ausbildung der Arbeitskräfte und Unterbringung der Arbeiter im ersten geplanten Wohnviertel der Stadt für 15.000 Einwohner, dem „Quang Trung Wohnkomplex“ (khu chung cư Quang Trung). Um das Problem des immensen Wohnungsmangels nach dem Krieg zu bewältigen, wandten sich die Architekten der platzsparenden architektonischen Idee einer integrierten Wohnsiedlung, bzw. Microrayon, zu. Hier sollten die Menschen Wohnraum finden, die aus Jahren der Evakuierung zurückkehrten. Aufmerksamkeit galt dabei sowohl den physischen Infrastrukturen wie Rohrleitungen, Straßen und Industriebetrieben als auch der sozialen Infrastruktur wie Parks, Schulen und Märkten – einschließlich einem Berufsausbildungszentrum –, um eine arbeiter-orientierte Stadt zu schaffen.

Historischer Bebauungsplan der DDR mit dem Titel "The Open Hand Design", mit Wohnflächen, Verwaltungsgebäuden, Industriegebieten, Grün- und Erholungsflächen und Wassergebieten

Eine internationale Gruppe von (größtenteils in der DDR ausgebildeten) vietnamesischen und ostdeutschen Architekten, Ingenieuren und Städteplanern, die in der Presse als „Kinder aus dem Heimatland von Marx“ bezeichnet wurden, sowie eine große Gruppe von zumeist weiblichen Bauarbeitern verbrachten die nächsten sieben Jahre mit der Anwendung von rationalen Planungsgrundsätzen und sozialwissenschaftlichem Wissen zum Aufbau einer radikal neuen Stadtlandschaft. Doch trotz der sozialistischen Losung für Gleichheit entstand eine eindeutige ethnische und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: vietnamesische Männer waren unter Betreuung von deutschen Architekten im technischen Labor für Entwurf und Planung zuständig, während vietnamesische Frauen die harte Arbeit des Planierens und anschließenden Baus der geplanten 36 Wohnblöcke ausführten, typischerweise unter der Aufsicht von männlichen – deutschen und vietnamesischen – Vorgesetzten.

Das Projekt sollte ganzheitlichen Charakter haben: Die Stadt sollte für das optimale Wohlbefinden von Arbeitern entworfen werden, um das langfristige, unabhängige Wachstum der Stadt zu sichern. Das sollte durch die Mechanisierung der Baustoffindustrie und die Schulung von Arbeitskräften durch intensive Ausbildungen gemäß einem DDR-Lebenslauf erfolgen. Das Wohnungswesen sollte eine zentrale Rolle in der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft spielen. Die daraus entstehende geplante Lebensumgebung, die an die einheimischen Klimabedingungen angepasst war, verkörperte die funktionalistischen Ideale von einer rationalen Stadt und zeigte gleichzeitig den guten Willen und die technische Erfindungsgabe Ostdeutschlands durch brüderliche Hilfe.

Trotz derartiger ehrgeiziger Vorstellungen von Modernität stieß die Idee des universellen Wohnungswesens bei den vietnamesischen Planern, Beamten und Einwohnern der damaligen Zeit auf Gefallen. Die sozialistischen Planer strebten danach, die Bevölkerung durch eine schnelle industrielle und infrastrukturelle Entwicklung aus der Armut zu führen, um einen gleichberechtigten Zugang zu den öffentlichen Gütern zu sichern, die tief verwurzelten kolonialistischen Ungleichheiten aufzulösen und die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Zu dieser Zeit waren moderne Planung und Architektur ein Hilfsmittel zur Dekolonialisierung und Entwicklung, auch wenn die Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Norden, einschließlich der DDR, Bedenken bezüglich neuer Formen von Abhängigkeit aufwarf.

Fotographie des Quang Trung Wohnkomplexes von 1977: Entlang einer Straße werden große, helle Plattenbauten errichtet.

Der Städtebau war sowohl ein praktisches Projekt als auch ein zivilisatorischer Prozess zum Aufbau einer neuen sozialistischen Menschlichkeit durch moderne Architektur, welche die Arbeitsproduktivität erhöhen und neue, nach vorn schauende sozialistische Männer und Frauen, moderne sozialistische Menschen, schaffen sollte. Moderne Bauten in der Form von Hochhäusern sollten nicht nur Wohngelegenheiten für eine Bevölkerung, die während des Krieges ihr Zuhause verloren hatte, sein, sondern auch eine neue Art modernen Lebens in der Stadt schaffen. In diesem Fall war dieser neue städtische Lebensstil von europäischen Ideologien sozialistischer Organisation beeinflusst, die sich auf die Kernfamilie als Standard‑Haushaltseinheit konzentrierte und mit den früheren Formen der Kollektivierung brach.

Spannungen zwischen ehrgeiziger Planung und Nachkriegsrealität zeigten die Unvereinbarkeit der universalistischen Forderungen der Moderne. Beispielsweise sollten Einfamilienwohnungen mit modernen Ausstattungen – Infrastrukturen wie Strom und interne Rohrleitungen, die vielen Menschen erstmalig zur Verfügung standen – Frauen angeblich von der häuslichen Plackerei befreien und es ihnen ermöglichen, effizientere Arbeiterinnen zu werden. Doch die neugebaute Infrastruktur funktionierte aufgrund von kritischen Engpässen oft nicht wie geplant. So war häufig nicht genug Strom vorhanden, um das Wasser in die oberen Etagen der Häuserblocks zu pumpen. Und wenn die Infrastruktur zusammenbricht, sind es zumeist die Frauen, die einspringen: In dem Wohnviertel in Vinh erhöhte die Baufälligkeit die Arbeitsbelastung der Frauen auf unverhältnismäßige Art und Weise, während die modernen Annehmlichkeiten diese ja eigentlich reduzieren sollten.

Die Zeichnungen und Technologien, die zwischen Ostdeutschland und Vietnam hin- und hergingen, wurden beträchtlichen Änderungen unterzogen, um alternative kulturelle Logiken und Ideen über sozialistische Modernisierung unterzubringen. Die vietnamesischen Behörden fühlten sich jedoch im Gedanken an den Lebensstil des sozialistischen Überflusses, welchen die Pläne der DDR zur Behebung der Nachkriegs-Mangelzustände zu versprechen schienen, unwohl. Beispielsweise waren sie skeptisch gegenüber der Vorstellung von Einfamilienwohnungen, die zu dieser Zeit Verschwendung zu sein schienen, und der Kernfamilie als Basiseinheit der sozialen Organisation im Wohnblock, die kulturell zu dem landestypischen erweiterten oder 3-Generationen-Haushalt im Widerspruch stand.

Viele Bewohner der Wohnblöcke blieben auch skeptisch gegenüber den hochgeschossigen Wohnungen und den modernen Annehmlichkeiten, die diese bieten sollten. Es entstanden Differenzen zwischen sozialen Gruppen wie Arbeitern und öffentlichen Angestellten, die in demselben Komplex lebten: Manche begrüßten das Wohnen im Hochhaus, da es ihnen eine Identität als moderne Städter gab, andere lehnten es als kulturell unvertraut ab. Unter der „horizontalen Solidarität“ zwischen den Ostdeutschen und Vietnamesen schwelten mithin Wettbewerbsgedanken des Sozialismus und Visionen von städtischem Futurismus.

Ein altes Wohngebäude aus abgewetztem Beton in Vietnam ist mit Anbauten erweitert worden, die balkonartig übereinander aus dem alten Gebäude hervorstechen. Sie sind mit Maschendraht und grünen Membranen umgrenzt und mit Wellblech überdacht. Durch den Maschendraht sind behangene Wäscheleinen, Kleiderbügel und Haushaltsgegenstände, wie Besen und Leitern, zu erkennen, die von den Bewohnenden in den Anbauten gelagert werden.

So sind auch die Grenzen rationaler Planung und unterschiedlicher Ideen über städtisches Leben in der Neugestaltung des Wohnraums erkennbar. Funktionales Design versuchte dort klare, moderne Linien einzuführen, wo in Vietnam kulturell verschwommene Grenzen waren. Die DDR-Architekten wollten öffentliche und private Bereiche getrennt halten, während diese in Vietnam nicht klar unterschieden wurden. Dies galt auch für Praktiken des Lebensstils und des Auskommens, die für Vietnamesen immer fließend ineinander übergingen. Die Menschen, die in den Wohnblöcken wohnten, gingen daran, ihre Wohnungen zu renovieren: Sie brachten Anbauten an den Balkons an, um extra Zimmer oder Arbeitsbereiche zu schaffen. Sie erweiterten die Ausgangs- und Kellerbereiche, die ein einzigartiges ökologisches Element des Komplexes waren, und machten daraus Geschäfte, Firmen, Tiergehege oder Stände zum Verkauf von Essen. Die Höfe wurden zu Märkten oder Federballplätzen und die Grünflächen verwandelten sich in Gärten. Diese Aneignung von öffentlichem Raum wurde zum besonderen Merkmal des Komplexes, das dessen dynamisches soziales Leben widerspiegelte und sich den schwierig umzusetzenden Ideen von Massenbehausungen als erdrückenden Bereichen sozialer Isolation oder Betondschungeln ohne jegliches städtische Grün und menschliche Geselligkeit entgegensetzte.

Die erste Planstadt von Vietnam fiel binnen Kurzem in „ungeplante Obsoleszenz“. Gebäude, die eine Lebensdauer von 80 Jahren haben sollten, waren auf Grund von Verwahrlosung und Wartungsmangel schon bald dem Verfall geweiht. 2010, drei Jahrzehnte, nachdem die letzten DDR-Experten Vinh verlassen hatten, lebten 60 % der ursprünglichen Bewohner noch immer in den Wohnblöcken, in denen sie mehr als 30 Jahre lang gewohnt hatten. 2011 wurde der Wohnkomplex privatisiert und die Bewohner mussten eine „Gebühr“ bezahlen, um die Eigentumsrechte für ihre Wohnungen vom Staat auf ihre Familien zu übertragen. Nachdem in demselben Jahr Abriss- und Wiederaufbaupläne für das Wohnviertel erstellt worden waren, organisierten sich einige Bewohner und beantragten, dass die Gebäude auf Grund ihrer einzigartigen, von „internationaler Solidarität“ zeugenden Geschichte als architektonisches Erbe anerkannt würden. Die Bewohner schlossen sich zusammen, um gegen die Neugestaltung zu protestieren, die schließlich verschoben wurde. Seit 2017 wurden viele der Häuserblöcke durch Hochhäuser ersetzt, was die Rolle der einstigen Utopien für die Gegenwart und Zukunft des ostdeutschen Wohnungsbaus im Global South in Frage stellte.

Im Vordergrund rechts ist ein heruntergekommenes Wohnegäude zu sehen mit abgewetztem Putz, rostigen Parabolspiegeln und fehlenden Fenstern und Fensterrahmen. Im Hintergrund links ragt ein etwa 20ig-geschossiger Neubau in die Höhe auf dessen Dach eine große Leuchtreklame positioniert ist.

Dennoch und trotz derartiger Wandlungen hin zu postsozialistischen Städten hinterließen die von der DDR ausgeführten Modernisierungsprojekte einen architektonischen Fußabdruck von dieser Geschichte in der Stadtlandschaft von Vietnam. So zeugen technische Fachschulen, Fabriken (einschließlich Plattenwerke), Krankenhäuser, Infrastrukturen und andere Bauten von den solidarischen Maßnahmen in Vietnam. Auch Verbrauchsgüter aus der DDR, die Tausende von Arbeitern und Studenten bei ihrer Rückkehr nach Vietnam mitgebracht hatten, findet man teils noch in Gebrauch oder als begehrte Nostalgieobjekte in Ausstellungen, wie zum Beispiel Simson Mopeds. Selbst der Ausdruck „Vietnam Deutschland“ (Việt Đức) wurde zu einem Markenzeichen. Ein Beispiel dafür sind die beliebten „Việt Đức Würste” – der Eigentümer der Marke wurde in der DDR ausgebildet. All dies unterstreicht, dass an die Unterstützung Vietnams durch die DDR weiterhin gedacht wird. Sie wird wertgeschätzt und als DDR-Geschichte bewahrt – manchmal sogar in Stein gemeißelt, wie es eine Gedenktafel vor einer Schule in Buôn Ma Thuột bezeugt: „Die vietnamesisch-deutsche Hochschule wurde am 20. Juni 1983 gemäß der Vereinbarung über wirtschaftliche Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen Vietnam und der Deutschen Demokratischen Republik gegründet.“

[Der Text und die Bilder in diesem Beitrag wurden in angepasster Form übernommen aus: Christina Schwenkel, Building Socialism: The Afterlife of East German Architecture in Urban Vietnam, Duke University Press, 2020.]

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