Die Tür geht auf, und da bist du wieder. Stehst vor mir, als wäre nichts gewesen. Wie zielsicher du nach meinem Bügel greifst! Du weißt also doch, wo ich zu finden bin. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Seit Wochen hast du mich nicht angesehen. Immer nur deine Büroklamotten, weiße Blusen, Hosen mit Bügelfalte, langärmelig, langweilig, kein einziger Cut-out, nichts Kniefreies.
Aber heute brauchst du mich, ich sehe es dir an, du bist sowas von fällig! Hast geackert, dein Bestes gegeben, dich angestrengt, um dein kleines Leben zu finanzieren - und jetzt willst du feiern. Das Problem ist nur: Ohne mich traust du dich nirgendwo hin. Dein Alltag ist für mich tabu. Du würdest mich nicht mal zum Sport überstreifen, selbst dafür, deinen Schweiß aufzusaugen, bin ich nicht gut genug. Aber heute Abend muss ich wieder mit. Eigentlich sollte ich beleidigt sein.
Liebe auf den ersten Blick war es nicht zwischen uns. Richtig leiden kannst du mich nicht, stimmt’s? Schon der Anfang unserer Geschichte: dein Ex hat mich bei dir vergessen. Keinen Cent hast du für mich ausgegeben. „Als Subway Shirt reicht der alte Lappen.“ Deine Worte, weißt du noch?
Was ich für dich empfinde, ist weit komplizierter: Wenn ich dich anschaue, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Alles glänzt und glitzert, duftet und knistert, von den Haarspitzen über die Augenlider und Wangenknochen, die silbernen Fingernägel, all deine glänzende Haut, dein Nabelpiercing, dein leuchtender Mund, deine halbnackten Schenkel und Oberarme, dein langer Hals, dein Brustansatz, dein Haar, deine Beine. Du hast dich schön gemacht und willst dich zeigen, jeden Zentimeter, in schulterfreien Top, in Minirock und Mikroshorts. Du und deinesgleichen behaupten ja immer, ihr tut das alles nur für euch selbst. Das glaube ich dir nicht, du kleines Ding. Du hast es darauf abgesehen, willst es wissen, dich in den Clubs auf der Tanzfläche drehen, halbnackt, an der Bar stehen, mit deinen Freundinnen durch die sommerwarmen Straßen schlendern, gesehen werden.
Meine Aufgabe ist, dich sicher zu diesen Locations zu begleiten. Du streifst mich über, eine Kutte, einen Sack, sobald du zur U-Bahn gehst, zur Tube, zur Subway, zur Metro. Ich darf dich nicht zum Leuchten bringen. Durch mich unsichtbar werden, alles verbergen, was dich ausmacht, das ist dein Ziel - deine Festlaune, deine Unabhängigkeit, deine Fröhlichkeit, deinen Körper, der nichts will als tanzen, trinken, feiern. Mit mir kommst du von A nach B, möglichst unbehelligt, zu unscheinbar, zu hässlich, um angesprochen zu werden.
Bist du am Ziel, werde ich zum Fetzen, den man benutzt und auf den Boden wirft. Du zeigst mir, wo mein Platz ist. Wenn ich an all die Orte denke, an denen du mich schon zurückgelassen hast… Wann wurde ich zum letzten Mal gewaschen? Gebügelt? Das Loch an der Achsel gestopft? Du willst dich bedecken, weil du sie nicht aushältst, die Blicke, die Worte, die Gesten, das Ranrücken, das Grapschen und Heranwanken, am besten noch in der Horde, wie sie dich einkreisen, sich rund um dich aufstellen, dir ins Ohr flüstern.
Dein Ausweg aus dieser Misere bin ich. Du hältst dich für kreativ und schlau, weil du auf diese Idee gekommen bist, ein viel zu großes Shirt über dein Ausgeh-Outfit ziehen, denn du traust dich nicht mehr, so wie du bist, auf die Straße zu gehen, in all deiner Schönheit. In all deiner Nacktheit. In all deiner Frechheit. Du hast Angst, vielleicht schämst du dich auch ein bisschen. Du möchtest nicht, dass Fremde dich berühren und anglotzen, dir sagen, was sie von deiner Aufmachung halten. Darum hast du mich gewählt, zu deinem Schutz.
Wahrscheinlich hast du ein Gefühl dafür, wer ich wirklich bin, ganz tief im Inneren. Deshalb behandelst du mich so schlecht. Was glaubst du denn, wen du dir mit mir in deinen Schrank geholt hast? Du glaubst, ich meine es gut, helfe dir dabei, dich in Sicherheit zu bringen? Aber du bist ins falsche Zelt geschlüpft, hast dich unter den Schirm des Falschen gestellt, bist ins verkehrte Loch gekrochen. Weißt du eigentlich, wie wir dich nennen? Ich kann dir unser Alphabet aufsagen:
Alte Sau
Bitch
Corpsmatratze
Dreilochstute
Emanze
Feminazi
Geile Maus
Hure
Irre
Kackschlampe
Luder
Möse
Nutte
Ökoschlunze
Pissnelke
Qualle
Rabenaas
Schnalle
Tussi
Urschel
Vogelscheuche
Wanderpokal
Xanthippe
Zimtzicke
Was glaubst du denn eigentlich, wer du bist? Unseresgleichen?
Ich bin nicht dein Beschützer. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ganz andere Dinge mit dir anstellen als dich zu bedecken.
Am liebsten möchte ich dein Nessushemd sein. Dein eingeöltes Fleisch soll sich unter meinen vergifteten Fasern zersetzen wie das Fleisch des Herakles, von dem du noch nie gehört hast. Ich will dich in Fetzen sehen. Die in Stücken herabhängend. Sie abziehen wie einen alten Aufkleber.
Dich pellen wie eine heiße Kartoffel. Du sollst brennen, wie die Weiber auf dem Scheiterhaufen, ich will dich fertigmachen, dich bedecken wie Erde den Sarg, damit du unsichtbar wirst und still, voller Angst, kopflos und gehorsam, denn so, genauso wollen wir dich haben.
Mein Schutz ist nicht echt.
Zum Phänomen des Subway-Shirts vgl. Wikipedia zu diesem Stichwort und Jasmin Gnu auf Youtube „Subway Girls gegen Belästigung sind kein Empowerment!“
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