Ende Februar 2024 berichteten nicht nur deutsche Medien, sondern sogar die New York Times über die RAF-Terroristin Daniela Klette, die sich in Kreuzberg einen neuen Namen zugelegt hatte und 30 Jahre lang ein vermeintlich menschenfreundliches Dasein führte. Sicherheitshalber hatte sie sich einen italienischen Pass beschafft. Auffällig an ihr sei eigentlich nur ihre Brasilien-Begeisterung gewesen. Das zumindest gaben Bekannte zu Protokoll. Als Claudia Ivone war sie eine stille, aber beliebte Nachbarin. Als Daniela Klette hingegen gehörte sie zu jener legendären Guerillagruppe, über deren Motive und Verbindungen in die DDR und zu antizionistischen Kampfeinheiten im Nahen Osten sich spätestens seit dem Mauerfall niemand mehr Illusionen machen kann.
Dabei hat sich Daniela Klette niemals wirklich, sondern lediglich hinter ein paar vokalreichen Silben versteckt: Claudia Ivone – mehr brauchte es offenbar nicht, um in ihrem Kiez unerkannt zu bleiben und dazu auch noch eine Kalaschnikow, Sprengstoff und anderes Kriegsgerät in ihrer Wohnung zu deponieren. Wären Klettes politische Absichten nicht so fürchterlich, könnte man ihre Strategie romantisch verklären: Es klingt fast, als wäre sie bei E.T.A. Hoffmann in die Schule gegangen, um sogar im Digitalzeitalter das Unvorstellbare möglich zu machen.
Historisch gesehen erinnert Klettes erfolgreiche Irreführung ihrer Verfolger selbstverständlich eher an zahlreiche Naziverbrecher, die nach 1945 unter falschen Namen von der Bildfläche verschwanden. Ihnen gelang, was nur den wenigsten ihrer Opfer vergönnt war. Etwa dem 1928 geborenen Georges-Arthur Goldschmidt. Eigentlich hieß er Jürgen, doch seinen Vornamen musste er schon als Kind ins Französische übertragen, als er vor den Nazi-Schergen in einem abgelegenen Internat in den Savoyer Alpen versteckt wurde. Und er überlebte, bis heute.
Der Dichterin Gertrud Chodziesner nützten Pseudonyme hingegen wenig. Postum ging sie, die wie Goldschmidt aus einer jüdischen Familie stammte, als Gertrud Kolmar in die Literaturgeschichte ein. In den Jahren nach 1933 aber verhalf ihr der Künstlerinnenname nicht einmal zu Publikationen. Zu Lebzeiten konnte Gertrud Kolmar nur einzelne Gedichte veröffentlichen. Der von ihr selbst zusammengestellte Band Die Frau und die Tiere wurde im Zusammenhang mit den Novemberpogromen 1938 gleich nach seinem Erscheinen wieder eingestampft.
Vielleicht versuchte sie deshalb, sieben ihrer schönsten Gedichte als Übersetzungen aus dem Englischen zu tarnen. Der Zyklus German Sea stamme von einer gewissen Helen Lodges, behauptete Kolmar und fingierte sogar englische Titel für jedes einzelne der Gedichte, die im Anschluss an eine Reise mit dem Schriftsteller Karl Joseph Keller Ende 1934 nach Hamburg, Lübeck und an die Ostsee entstanden waren. Auf diese Weise verwandelte sie z.B. das märchenhafte „Meerwunder“ in ein bedrohliches „Sea-Monster“. Gedruckt werden konnten die Gedichte trotzdem erst Jahre nach der Ermordung der Autorin in Auschwitz.
Ein schwacher Trost ist es, dass die finsteren Zeitläufte vielen ihrer Manuskripte nichts anhaben konnten. Aus berechtigter Furcht hatte Kolmar sie rechtzeitig bei Freunden versteckt. Ihr erster Herausgeber wurde 1947 der Schriftsteller Hermann Kasack. Er notierte auf dem Titelblatt des Manuskripts von German Sea vorsichtig: „Vermutlich keine Übersetzungen sondern Original-Gedichte. Als Übertragung usw. nur aus polit.[ischen] Gründen von der Kolmar in den dreißiger Jahren fingiert!“ Kasack kannte Kolmars späten Brief an ihre Schwester vom 26. Januar 1943 noch nicht, mit dem sie alle Zweifel daran beseitigte, dass es sich sozusagen um maskierte Gedichte handelte. In ihm erinnerte sich Kolmar: „Meine letzte – und schönste – Reise ging nach Hamburg, nach Lübeck (auf Buddenbrooks Spuren) und Travemünde, und der unverwischbarste Eindruck war eine Winternacht am einsamen Meeresstrande. Mein Reisetagebuch bilden sieben Gedichte, von denen ein paar zu den besten gehören, die ich je fand.“
Ähnliche Probleme wie Kolmar bedrückten auch den jungen Schriftsteller Heinz Liepmann in Hamburg, der sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den sozialistischen Untergrund begeben hatte. Schon im April 1933 standen seine Romane und Dramen auf der ‚Schwarzen Liste‘ neben denen von Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Heinrich Mann und vielen anderen namhaften Autoren. Mithilfe des Pseudonyms Jens C. Nielsen gelang Liepmann zwar noch die Uraufführung einer Komödie, aber dies bewahrte sein Stück nicht vor einem Verbot. Umgehend wurde bekannt, wer es tatsächlich geschrieben hatte, weshalb es sofort wieder abgesetzt wurde. Liepmann bewirkte mit der Aufführung allenfalls, dass er fortan noch stärker ins Visier der SA geriet. Er entkam nach Paris. Sein „Tatsachenroman“ Das Vaterland erschien noch im selben Jahr in einem Amsterdamer Verlag. Das Buch ist eine der frühesten Beschreibungen der nationalsozialistischen Lager, von denen Liepmann allerdings höchstwahrscheinlich nur durch Berichte aus dem Bekanntenkreis wusste, nicht aus eigener Erfahrung.
Wesentlich mehr Erfolg mit Pseudonymen als Gertrud Kolmar und Heinz Liepmann hatte der Berliner Student Kurt Lehmann. Er floh 1934 in die Niederlande. Eine seiner ersten Veröffentlichungen erschien im selben Jahr in Leopold Schwarzschilds Exil-Organ Das neue Tage-Buch neben Beiträgen prominenter Flüchtlinge wie Ilja Ehrenburg und Joseph Roth – anonym, als „Tagebuch eines Berliner Studenten“. 1936 folgte im Amsterdamer Querido-Verlag sein wichtigstes Buch, dessen Titel unter Exilanten fast sprichwörtlich wurde: Ein Mensch fällt aus Deutschland.
Auf dem Cover des Romans, den man heute wahrscheinlich als ‚Autofiktion‘ vermarkten würde, stand als Autor nicht Kurt Lehmann, sondern ein gewisser Konrad Merz. „Im Grunde hat mich der Name Merz gerettet“, stellte Lehmann 1977 rückblickend fest. „Ich habe nämlich dafür gesorgt, daß nirgendwo ein Photo von mir erschienen ist, so daß niemand wußte, wer Merz ist. Die Sekretärin von Querido hat es auch nicht verraten, später hat sie mich aber gewarnt.“
Während die deutschen Besatzer intensiv nach Merz suchten, verloren sie den ehemaligen Studenten Lehmann aus den Augen. Als dieser zur Deportation nach Auschwitz aufgefordert wurde, meldete er sich zwar wie befohlen bei jener mörderischen Institution, die sich „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ nannte, verschwand dann aber. Mit einem gefälschten ‚Persoonsbewijs‘ hätte er sich im Ernstfall als Karel Frederik van Gelder, wohnhaft in Amsterdam, ausweisen können, doch niemand konnte absehen, ob ihn das wirklich hätte retten können.
Als erstaunlich sicher erwies sich hingegen sein Versteck in einer engen Wäschekammer im ländlichen Ilpendam. Hier kämpfte Lehmann bis Kriegsende mit der Angst vor Entdeckung und dem Bedürfnis, sich endlich wieder frei bewegen zu können. Mitunter übersetzte er antifaschistische Schriften, gelegentlich notierte er etwas in seinem Tagebuch, vor allem trainierte er in der schützenden Kammer seinen Körper mit äußerster Disziplin.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde aus diesem Überlebensprogramm ein Lebensplan: Lehmann ließ sich zum medizinischen Masseur und Physiotherapeuten ausbilden und baute in Purmerend eine Praxis auf, die es heute noch gibt. Als Schriftsteller trat er erst 1972 wieder in Erscheinung. Nach und nach veröffentlichte er drei Bände mit „Erzählungen“ und „Plaudereien“ eines „Masseurs“, den letzten davon unter einem Titel, der wie ein Motto zu Lehmanns Überlebensgeschichte klingt: Glücksmaschine Mensch.
Hatten ihn neben der Gymnastik und den mutigen Freundinnen und Freunden, die ihn jahrelang versteckten, tatsächlich auch seine falschen Namen gerettet? Anders als im aktuellen Fall der skrupellosen Terroristin Klette aus Kreuzberg, die sich im World Wide Web sogar auf Fotos zeigte, kann darüber nur spekuliert werden. – Apropos digitale Gegenwart: Online ist das Spiel mit schützenden Pseudonymen und doppelten Identitäten für die meisten von uns inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr groß darüber nachdenken.
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