Eine Frau im Profil, am Fenster stehend und einen Brief lesend. Das einfallende Licht lässt ihre Haut im Chiaroscuro erleuchten. Selbst mit wenigen Anhaltspunkten erkennt man in der Beschreibung einen eindeutigen und bewussten Verweis auf Johannes Vermeers Gemälde Briefleserin am offenen Fenster (ca. 1657). Beide Werke – das Gemälde und die Fotografie – sind derzeit in einer Ausstellung der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden zu sehen.
Wer Fotografie für ein spontanes, dokumentarisches Medium hält, kann hier ein Gegenbeispiel betrachten. Tom Hunter hat dieses Foto 1997 aufgenommen und dabei eine Szene akribisch nachgestellt, die ein Gemälde aus der Vergangenheit nachempfindet. Dabei hat er sich bei Vermeer in mindestens zweifacher Weise bedient: Zum einen reproduziert Hunter die formale Komposition des Gemäldes von Vermeer. Zum anderen ist da das Motiv: die Haltung der Frau, ihre Körpersprache und ihr Gesichtsausdruck, all dies imitiert Vermeers Vorlage. Um das Werk zu schaffen, musste Hunter den Ort, die Requisiten und die Personen sorgfältig auswählen und auf perfekte Lichtbedingungen warten. Was den Brief betrifft, weicht er jedoch von Vermeer ab.
Hunter hat seine Arbeit Woman reading a Possession Order [Frau beim Lesen eines Räumungsbefehls] genannt. Wie sich herausstellt, stehen die porträtierte Frau und ihr Säugling kurz vor einer Räumung. Die Fotografie ist Teil einer Serie von acht Werken, die zusammen als „Persons Unknown“ [Unbekannte Personen] betitelt ist und Bilder von Vermeer reproduziert. Für die im Rahmen seiner Abschlussarbeit am Royal College of Art erstellte Arbeit hat Hunter seine Nachbar*innen im Londoner Stadtteil Hackney fotografiert, der 1997 noch als sozialer Brennpunkt galt. Eine Gemeinsamkeit aller abgelichteten Personen bestand darin, dass es sich bei ihnen um Hausbesetzer*innen handelte, die von der Stadtverwaltung einen an „Unbekannt“ adressierten Räumungsbescheid erhalten hatten – daher der Titel der Arbeit. Doch obwohl die Situation dieser namenlosen Frau trostlos erscheint, stellt Hunter ihre missliche Lage interessanterweise nicht dezidiert heraus. Stattdessen setzt er sie nach jenem Gemälde von Vermeer in Szene, um etwas von seinem Heroismus und Prestige auf sie zu übertragen. Nach eigenem Bekunden wollte Hunter „die Würde des Lebens als Hausbesetzer*innen zeigen – ein Stück Propaganda zur Rettung meines Viertels.“
Hunter hat also eine ikonische Komposition und ein Motiv aus der Vergangenheit nachgebildet, um die soziale Ungerechtigkeit der Gegenwart zu thematisieren (wohlgemerkt 1997). Dabei scheint er sich darauf zu verlassen, dass Vermeers Bildsprache – und die vergleichbarer Klassiker des Barock – einen Eindruck von zeitloser, universeller Schönheit vermittelt. Die darin liegende Großzügigkeit soll dann bereits dadurch vermittelt werden, dass dessen harmonische Form und Struktur nachgeahmt wird. Freilich ist Hunter weder der erste noch der letzte Fotograf, der sich bei Vermeer bediente, man denke beispielsweise an Alfred Stieglitz’ Sun Rays – Paula, Berlin [Sonnenstrahlen – Paula, Berlin] von 1899 oder Nicholas Middletons After Vermeer [Nach Vermeer] aus dem Jahr 2000.
In vielerlei Hinsicht scheint Hunter die Wirkung von Vermeers Gemälde tatsächlich eingefangen zu haben. Betrachtet man seine Fotografie, findet man indes kaum Hinweise, dass die Frau eine Hausbesetzerin ist. Während die Fotografie der freien Imagination Raum lässt, liefert der Titel konkrete Details. Plötzlich scheint das Bild ein lokales Drama sozialer Ungerechtigkeit zu inszenieren, mit all den negativen Assoziationen, die Hausbesetzer*innen zu wecken vermögen, und denen Hunter – so scheint es – die positiven Eindrücke, die Vermeers Bildsprache auslöst, entgegensetzt.
Mit seiner Briefleserin am offenen Fenster wollte Vermeer offensichtlich keine bloße Anekdote erzählen. Das Bild vermittelt einen Eindruck davon, was es bedeutet, in der Welt zu sein. Es ist nicht etwa deshalb von dieser Welt, weil es eine Delfter Frau des 17. Jahrhunderts in einer realistischen Situation darstellt (was es wahrscheinlich ohnehin nicht tut), sondern weil es sich aus dem spezifischen Kontext seiner Darstellung zu lösen scheint. Nachdem das Werk Vermeers Staffelei verließ, blieb es von den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen und den Wirren der Geschichte weitgehend unberührt, auch wenn Teile der Leinwand später übermalt wurden, wie die neue spektakuläre Restauration der Arbeit derzeit enthüllt. Vielmehr wendet sich das Bild nach innen – um ein passendes Vermeer-Klischee zu bedienen –, nicht jedoch in einem eskapistischen Sinn, oder als bloße Leugnung der äußeren Welt. Vielmehr bringt es zum Ausdruck, was es heißt, in der Welt zu sein – ein Zeichen grenzenloser Freiheit unserer Vorstellungskraft. Dies ist es, was Vermeers Gemälde seinen zeitlosen Charakter zu verleihen vermag.
Hunter hat Vermeers Bild die formale Schönheit entlehnt und sie mit realen Details bereichert – und er unterrichtet uns zugleich über die soziale Notlage seines Modells. In der Fotografie sehen wir eine Frau, die der Sphäre des Schönen – und der uneingeschränkten Imagination – ebenso angehört wie der realen Welt und ihren Beschränkungen und Mängeln. Sozial ist sie in dieser Welt nicht gleich, in der Welt der Kunst hingegen scheint sie ästhetisch gleichgestellt. Hunter neutralisiert die Ungerechtigkeit der imperfekten Welt – in der Welt der Vorstellung. Dabei liegt seinem Werk im Kern eine implizite Kritik der Repräsentationen und seiner Hierarchien der Darstellung zugrunde: Steht die abgebildete Frau für etwas, das in der Realität unmöglich bleibt und nur in der Fantasie existiert? Kann die Macht der Repräsentationen ein Motor für Empörung und Veränderung sein? In einem Zeitalter, das von Auseinandersetzungen um Identität und soziale Ungerechtigkeit geprägt ist, scheinen diese Fragen relevanter denn je.