Zeichen auf einem Haik. Günter Eich, die hundert Namen Allahs und ‒ ich 13. Januar 2025

Im ‚prep room‘ des Grassi-Museums in Leipzig stand ich im Frühjahr 2023. Was ich dort sah, was ich erlebte und was mir nachging, es war Unverhofftes. Auf den ersten Blick Unscheinbares. Ein Tuch, gewirkt aus sandfarbigen Fäden, einige helle Streifen, dazu Buchstaben und Zeichnungen im Braunton. Oder täuschte ich mich? Das Alles sagte mir nichts. Doch nichtssagend war es nicht. Ich wollte das Gewebe berühren. Etwas hielt mich. Was?  

Manchmal, wenn wir auf hohen Bergen stehen oder von einem Turm hinabschauen, erscheint, was wir sehen, zeichenhaft. Die Welt vor uns verwandelt sich in Gebilde. Wir glauben geometrische Figuren zu erkennen, und sind versucht zu entziffern, als lasse sich das Erblickte lesen. Was eben noch ein Haus, ein Feld, ein Baum war, plötzlich sind es Zeichen, plötzlich ist es Schrift, unzweifelhaft. Aber wir können sie nicht lesen. Das gerade noch Selbstverständliche, wir verstehen es nicht mehr, es ist zum Rätsel geworden. Die Bedeutung, vertraut und fest im Griff durch einen Begriff, entgleitet uns. Der Wunsch nach neuer Deutung ist geweckt, doch wir bleiben ratlos vor der Fremdheit dieser Schraffur. Ein Buchtitel kommt uns in den Sinn: Die Lesbarkeit der Welt. Hans Blumenberg hat es verfasst. Der Titel ist schön, und schön der Gedanke.

Titel und Gedanke kehrten vor dem Tuch zurück. Sie verhießen Hilfe, der Decke Eigenstes zu erkennen im Zeichenhaften, das ihr eingeschrieben war ‒ oder eingeschrieben schien. Eine Richtung war gewiesen, ihr zu folgen verführerisch. Der Versuchung, den Stoff zu berühren, wuchs in jedem Augenblick. Fast schien es, dass das Tuch, wenn meine Finger nur erst darüber strichen, eine Stimme bekäme und sich zu erkennen gäbe. Aus dieser Stimme würde die weit hinab in die Zeiten reichende Geschichte als Erzählung erklingen, längst Vergangenes kehrte zurück in die Gegenwart, in meine Gegenwart. Sie handelte von Menschen, deren Ohnmacht so groß war wie die Mächte, vor denen nichts und niemand schützte ‒ nur dieses Tuch. Wo es herkommt, aus Nordafrika, hieß es Haik. Dessen Kraft lag im Verborgenen, darüber gab es keinen Zweifel. Aber wo?

Immer wieder tasteten meine Augen das Stoffgebilde ab, endlich verharrten sie an den Linien, den Kreisen, den Punkten, den Symbolen und der elementaren Schrift. Und ich wurde belohnt. Wer sich vertieft, gelangt in Tiefe. Laute drang an mein Ohr eine Sprache, mir fremd. War das Arabisch? Doch merkwürdig, ich verstand, was sie sagte: „Schlimm ist das Gleichnis der Leute, die unsre Zeichen der Lüge zeihen und wider sich selber sündigen. […] Und Allahs sind die schönsten Namen. Drum rufet ihn an mit ihnen und verlasset jene, welche seine Namen verketzern. Wahrlich, belohnt sollen sie werden für ihr Tun!“1 Das soll ich gehört haben? Gewiss, es klingt mysteriös und mystisch. Eigenzweifel regten sich. Vielleicht stand auch ein gelehrter Herr in langem Gewande neben mir, der so etwas vor sich hinflüsterte, es mag sein, ich weiß es nicht. Jedenfalls fing ich noch etwas von der siebenten Sure des Korans auf und beschloss, das Gehörte nachzulesen. Gerade als ich mich anschickte, aufzubrechen, bemerkte ich, wie ein Finger auf den Rand des Tuches zeigte. Was ich dort sah, waren winzige Punkte, nicht mehr und nicht zu zählen. Zierde wohl, dachte ich. Und als habe da jemand meine Gedanken gelesen, folgte dem Finger unmittelbar der Fingerzeig: „Hat der Prophet Mohammed nicht gesagt: Wahrlich, Gott hat neunundneunzig Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, wird in das Paradies eintreten? Ach, könntest Du doch nur lesen, du wärst gerettet.“2 Ich wandte mich um, da war niemand. Hieß das, ich zögerte, hieß das, diese aufgestickten Verzierungen bedeuten eben dies?


1    Siebente Sure. Der Wall. Geoffenbart zu Mekka. Zit. nach: Der Koran. Aus dem Arabischen. Übersetzung von Max Henning. Leipzig: Reclam 1979, S. 175.
2    So steht es in einer Überlieferung (arab. Hadith) von Aussprüchen und Handlungen des Propheten Mohammed (Verfasser vermutlich Abū Hurairas). In: Saḥīḥ des Buḫārī, Band 3, Buch 50, Nr. 894 (u. a.: Die Sammlung der Hadithe Sahih Al-Buhari. Leipzig: Reclam 2010).

Schleunigst verließ ich, das fein Gestickte im Sinn, den Raum, verwirrt zwar, doch keineswegs irre. Der da islamisches Bruchstückwissen souffliert hatte, er konnte nicht ahnen, dass mir der Fingerzeig handfeste Fährte war. Ihr folgte ich und hielt schon wenig später das Bändchen Nr. 667/1958 aus der Insel-Bücherei in den Händen ‒ Günter Eich: Allah hat hundert Namen. Ein Hörspiel. Es erneut zu lesen und mit dem kostbaren Ausstellungsstück in Zusammenhang bringen, waren eins. Beides schien miteinander verbunden. Über das Abwegige setzte sich meine Neugier hinweg. Das Hörspiel hebt an mit einem jungen Mann, der eine Stimme hört, die ihm zuraunt, er solle sich nach Damaskus aufmachen, zu Hakim, dem Ägypter: „Er wird dir sagen, wie er den hundertsten Namen Allahs erfuhr.“3


3    Günter Eich: Allah hat hundert Namen. Ein Hörspiel. MCMLVIII. Im Insel-Verlag. Wiesbaden 1958, S. 7.

Er identifiziert die Stimme als die des Propheten und tut, wie ihm aufgetragen. Er findet jenen Hakim in der ägyptischen Botschaft als Hausmeister, der ihm, einigermaßen mürrisch, fast unfreundlich seine abenteuerliche Lebensgeschichte erzählt, ausgelöst durch eben jene Prophetenstimme. Sie scheint übermütigen Schabernack mit ihm zu spielen und mischt durch die skurrilsten Anweisungen, Glück und Unglück so aberwitzig, das sie kaum noch zu unterscheiden sind: Tod und Leben im Schulterschluss, Aufstieg und Abstieg in einem Federzug. Von Allahs hundertstem Namen ist lange keine Rede, statt geheiligter Seelen unheilige Alltäglichkeiten. Ja noch mehr, die Stimme des Propheten erklang auch Hakims Frau Fatima, und als es diesem endlich zu verrückt wurde ‒ ein Fischhandelsunternehmen in Damaskus ‒, änderte er sein Leben. Er begann wie versessen zu lesen, und der Prophet schwieg. Doch dann:

Der Tag, an dem Fatime den fünfzigsten Lastwagen und das achte Flugzeug kaufte, war der gleiche, an dem ich begriff, wohin ich mein Sinnen und Trachten zu lenken hatte: auf den hundertsten Namen Allahs. In ihm liegt das Geheimnis der Welt verborgen. Aber soviel ich auch las, nirgends stand er geschrieben. […]4


4    Ebd, S. 24.

Hakim brach Hals über Kopf auf, und das Wunder geschah: die Stimme des Propheten kehrte zurück und bei ihm ein. Doch die Nadel dieses akustischen Kompasses spielte derart verrückt, dass für diese Verrücktheiten hier keinen Platz ist. Nur so viel: Sie führten Hakim, bei einem Schustermeister so erfolglos wie bei einer Köchin und einer Bordellschönheit, zu der Frage „Konnte Mohammed sich irren?“5 Nein, nein, der Prophet irrte sich nicht. Alle Machenschaften der kleinen Welt, deren Opfer er wurde, opferte er nicht seine Sinnsuche ‒ die nach Allahs hundertstem Namen. Kein Zufall, dass er den Scheck auf den Crédit Lyonais, der ihn hätte retten können und gestohlen wurde, just am Vortag von ihm in seinen Koran zwischen der sechsten und siebenten Sure gelegen worden war: „Siehe, dein Herr ist schnell zur Strafe, und siehe, wahrlich, er ist verzeihend und barmherzig.“6


5    Ebd, S. 37.
5    Der Koran. Aus dem Arabischen. Übersetzung von Max Henning. Leipzig: Reclam 1979, S. 156.

So endet die sechste Sure, und die siebente, die im Anschluss anhebt, erzählt die Schöpfungsgeschichte, und wer in diesem Geiste erzogen wurde, wird sich unversehens in die biblische Welt der Mose-Bücher versetzt sehen. Die irdische Welt von Hakim und Fatime zerbröselte in einem atemberaubenden Tempo ‒ und die innere? Sie erhielt vom Propheten ein Wort mit auf den Weg: „‚Fatime, du bist jetzt arm genug, daß du dir selben helfen kannst!‘“7 Doch es war nicht das letzte, mitnichten. Allein das allerletzte schien für die vom Niedergang Gebeutelten das Allerletzte. Der Prophet flüsterte es Fatime ins Ohr: „‚O Wunder aller Wunder, das nie Gehörte ist eine Dattelpalme.‘“8 In dieser Nichtigkeit, die für den Gedankenarmen nichts ist, lag alles Innewerden und Begreifen. Ja, Hakim begriff, ihm war „der Star gestochen“. Wo Allah ‒ „das Original“ ‒ nicht zu verstehen ist, da gilt es zu übersetzen. Nun sah und hörte er „den hundertsten Namen Allahs hundert- und tausendfach. Im Ruf eines Vogels und im Blick des Kindes, in einer Wolke, einem Ziegelstein und im Schreiten des Kamels.“ Am Ende gar, Ironie hin, Ironie her, im „Glanz dieser Treppe“9, die Hakim und der junge Mann nun gemeinsam zu scheuern hatten.


7    Günter Eich: Allah hat hundert Namen, S. 54.
8    Ebd. S. 58.
9    Ebd. S. 60f.

Ich lehnte mich zurück. Als wehte der Geist des Gelesenen sanft durch den Raum, verlor sich alles Angestrengte. Ich nahm hier ein Buch und dort ein anderes zur Hand, blätterte darin herum, und obwohl ich nicht wusste, wonach ich suchte, fand ich doch, was des Wissens wert war. Ein Sahih Muslim hatte tatsächlich verkündet, dass, wer die neunundneunzig Namen Allahs auswendig kenne, ins Paradies eingehe, und zugefügt, lächelnd wohl, Allah liebe sonderbare Zahlen, also die ungraden. Folgte man der Lebensspur Mohammeds, ergebe sich eine Reihe ungrader Zahlen wie auch bei den meisten Gebetspraktiken. Selbst bei der Leichenwaschung habe der Prophet Wert auf ungrade Zahlen gelegt.10


10   Vgl. Ignaz Goldziher: Über Zahlenaberglauben im Islam. In: Globus 80 (1901), S. 31-32 (Neudruck: Ignaz Goldziher: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. von Joseph de Somogyi. Hildesheim: Olms 1970, S. 261-262).

Dem Sufi-Mystiker Ibn Arabi, der im 12./13. Jahrhundert gelebt hatte, war wie von seinem Leben davon überzeugt, dass diese neunundneunzig Namen die äußeren Symbole seien, die für die innersten Geheimnisse des Universums stünden. Im hundertsten, dem herrlichsten und schönsten, vereinten sich jene neunundneunzig göttlichen Attribute zum Inbegriff göttlicher Einzigartigkeit. In ihm seien sie, die nichts anderes sind als Beschreibungen von Wesenszügen, aufgehoben als endgültige Vollkommenheit von Liebe, Schönheit und Einklang.11 Langsam ließ ich die lange Liste der neunundneunzig Zuschreibungen Allahs an meinem Auge vorübergleiten ‒ angefangen von ar-Raḥmān (der Erbarmer) über al-Ḫāliq (der Schöpfer) und al-Muḏill (der Demütiger der Unterdrücker ihrer Mitmenschen) bis zum 99., aṣ-Ṣabūr (der Geduldige). Über all dem vergaß ich fast, warum ich hier herumstöberte: das Tuch, oder war es nicht doch eine Decke, die Zeichen, die Schrift. Ich beschloss, noch einmal dorthin zurückzukehren und das Schaustück erneut zu begutachten.


11    Vgl. Edition ewige Weisheit. Über die innere Philosophie der west-östlichen Traditionen. www.ewigeweisheit.de [11. September 2023].

Da liegt es ausgebreitet, nichts scheint anders und doch ist alles anders. Mein Blick hat sich verändert und mit ihm die kunstvoll gewirkte Decke auch. Während ich sie mustere, spreche ich leise die Namen Allahs, die für sie gefunden, die für sie zu Buchstaben geworden sind: al-Muhaimin (der Beschützer und der Bewacher, nur bei Ihm findet der Mensch wirklichen Schutz), al-Hafieth (der Erhalter, der die Taten seiner Diener bis zur Rechenschaft am jüngsten Tag erhält. Er ist der Beschützer, ohne den es keinen Schutz gibt und vor dem niemand beschützen kann) und al-Waliyy (der Schutzherr eines jeden, der seinen Schutz und seine Leitung braucht).12 Der Klang der Wörter erfüllt den Raum und meinen Sinn. Wen hat diese Decke geschützt, wen hat sie bewahrt vor Frost oder Hitze, wem bot sie Versteck oder enthüllt, als Rettung nahte, das Antlitz? Ein Gott, der nicht hilft, stirbt, heißt es. Aber das Stoffgewebe hat Gottesnamen in sich verwoben. Wer wollte es voneinander trennen? Und wer vermag die Namen Gottes, aramäisch (Alaha), hebräisch (Eloah), arabisch (Allah) von jenem JHWH zu lösen, den ein Urtext überliefert hat? Er wie alle anderen ist Ausdruck für die Erfahrbarkeit Gottes, „ich bin da“ oder „ich bin, der ich bin und der ich sein werde“. Gerade will ich über mein religiöses Wissensgeklitter den Kopf schütteln, beschämt und bekümmert, da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Umzudrehen wage ich mich nicht. Ich weiß, wer es ist und kenne ihn nicht: und werde ihn nie kennenlernen. Aber seine Stimme, sie kenne ich. Sie habe ich in mir bewahrt, vom ersten Besuch. „Was du siehst“, sagt sie, „hat Niederlagen erlitten, Kränkungen eingesteckt und Verachtung erfahren. Aber jedes Zeichen auf ihr und in ihr waren Schutz. Sie künden von dem, was niemand zu nehmen wusste: ihrer Würde.“


12    Vgl. islam.de/73.php [11. September 2023].

Immer fängt es damit an, dass man Stimmen hört, denke ich. Niemand steht hinter mir, ich prüfe es nicht, warum sollte ich. Das Geisterhafte hat keine Gestalt, seine Wirklichkeit ist unscheinbar, so unscheinbar wie das sandfarbene Tuch vor mir. Die Zeichen in ihm sind real, sie haben eine Realität gestiftet die Realität des Schutzgebenden, des Schützens. Ihr Wirken allein bezeugt den Geist, auf den vertraut haben, die Allahs neunundneunzig Namen in diesen Haik eingewoben haben. Neunundneunzigmal Hoffnung auf das Letzte, das Einzige, das Zeichenlose. Erfahrbar als Schutz allein, namenlos.

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