Im ‚prep room‘ des Grassi-Museums in Leipzig stand ich im Frühjahr 2023. Was ich dort sah, was ich erlebte und was mir nachging, es war Unverhofftes. Auf den ersten Blick Unscheinbares. Ein Tuch, gewirkt aus sandfarbigen Fäden, einige helle Streifen, dazu Buchstaben und Zeichnungen im Braunton. Oder täuschte ich mich? Das Alles sagte mir nichts. Doch nichtssagend war es nicht. Ich wollte das Gewebe berühren. Etwas hielt mich. Was?
Manchmal, wenn wir auf hohen Bergen stehen oder von einem Turm hinabschauen, erscheint, was wir sehen, zeichenhaft. Die Welt vor uns verwandelt sich in Gebilde. Wir glauben geometrische Figuren zu erkennen, und sind versucht zu entziffern, als lasse sich das Erblickte lesen. Was eben noch ein Haus, ein Feld, ein Baum war, plötzlich sind es Zeichen, plötzlich ist es Schrift, unzweifelhaft. Aber wir können sie nicht lesen. Das gerade noch Selbstverständliche, wir verstehen es nicht mehr, es ist zum Rätsel geworden. Die Bedeutung, vertraut und fest im Griff durch einen Begriff, entgleitet uns. Der Wunsch nach neuer Deutung ist geweckt, doch wir bleiben ratlos vor der Fremdheit dieser Schraffur. Ein Buchtitel kommt uns in den Sinn: Die Lesbarkeit der Welt. Hans Blumenberg hat es verfasst. Der Titel ist schön, und schön der Gedanke.
Titel und Gedanke kehrten vor dem Tuch zurück. Sie verhießen Hilfe, der Decke Eigenstes zu erkennen im Zeichenhaften, das ihr eingeschrieben war ‒ oder eingeschrieben schien. Eine Richtung war gewiesen, ihr zu folgen verführerisch. Der Versuchung, den Stoff zu berühren, wuchs in jedem Augenblick. Fast schien es, dass das Tuch, wenn meine Finger nur erst darüber strichen, eine Stimme bekäme und sich zu erkennen gäbe. Aus dieser Stimme würde die weit hinab in die Zeiten reichende Geschichte als Erzählung erklingen, längst Vergangenes kehrte zurück in die Gegenwart, in meine Gegenwart. Sie handelte von Menschen, deren Ohnmacht so groß war wie die Mächte, vor denen nichts und niemand schützte ‒ nur dieses Tuch. Wo es herkommt, aus Nordafrika, hieß es Haik. Dessen Kraft lag im Verborgenen, darüber gab es keinen Zweifel. Aber wo?
1 Siebente Sure. Der Wall. Geoffenbart zu Mekka. Zit. nach: Der Koran. Aus dem Arabischen. Übersetzung von Max Henning. Leipzig: Reclam 1979, S. 175.
2 So steht es in einer Überlieferung (arab. Hadith) von Aussprüchen und Handlungen des Propheten Mohammed (Verfasser vermutlich Abū Hurairas).
In: Saḥīḥ des Buḫārī, Band 3, Buch 50, Nr. 894 (u. a.: Die Sammlung der Hadithe Sahih Al-Buhari. Leipzig: Reclam 2010).
3 Günter Eich: Allah hat hundert Namen. Ein Hörspiel. MCMLVIII. Im Insel-Verlag. Wiesbaden 1958, S. 7.
Er identifiziert die Stimme als die des Propheten und tut, wie ihm aufgetragen. Er findet jenen Hakim in der ägyptischen Botschaft als Hausmeister, der ihm, einigermaßen mürrisch, fast unfreundlich seine abenteuerliche Lebensgeschichte erzählt, ausgelöst durch eben jene Prophetenstimme. Sie scheint übermütigen Schabernack mit ihm zu spielen und mischt durch die skurrilsten Anweisungen, Glück und Unglück so aberwitzig, das sie kaum noch zu unterscheiden sind: Tod und Leben im Schulterschluss, Aufstieg und Abstieg in einem Federzug. Von Allahs hundertstem Namen ist lange keine Rede, statt geheiligter Seelen unheilige Alltäglichkeiten. Ja noch mehr, die Stimme des Propheten erklang auch Hakims Frau Fatima, und als es diesem endlich zu verrückt wurde ‒ ein Fischhandelsunternehmen in Damaskus ‒, änderte er sein Leben. Er begann wie versessen zu lesen, und der Prophet schwieg. Doch dann:
Der Tag, an dem Fatime den fünfzigsten Lastwagen und das achte Flugzeug kaufte, war der gleiche, an dem ich begriff, wohin ich mein Sinnen und Trachten zu lenken hatte: auf den hundertsten Namen Allahs. In ihm liegt das Geheimnis der Welt verborgen. Aber soviel ich auch las, nirgends stand er geschrieben. […]4
4 Ebd, S. 24.
5 Ebd, S. 37.
5 Der Koran. Aus dem Arabischen. Übersetzung von Max Henning. Leipzig: Reclam 1979, S. 156.
7 Günter Eich: Allah hat hundert Namen, S. 54.
8 Ebd. S. 58.
9 Ebd. S. 60f.
10 Vgl. Ignaz Goldziher: Über Zahlenaberglauben im Islam. In: Globus 80 (1901), S. 31-32 (Neudruck: Ignaz Goldziher: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. von Joseph de Somogyi. Hildesheim: Olms 1970, S. 261-262).
11 Vgl. Edition ewige Weisheit. Über die innere Philosophie der west-östlichen Traditionen. www.ewigeweisheit.de [11. September 2023].
12 Vgl. islam.de/73.php [11. September 2023].
Immer fängt es damit an, dass man Stimmen hört, denke ich. Niemand steht hinter mir, ich prüfe es nicht, warum sollte ich. Das Geisterhafte hat keine Gestalt, seine Wirklichkeit ist unscheinbar, so unscheinbar wie das sandfarbene Tuch vor mir. Die Zeichen in ihm sind real, sie haben eine Realität gestiftet die Realität des Schutzgebenden, des Schützens. Ihr Wirken allein bezeugt den Geist, auf den vertraut haben, die Allahs neunundneunzig Namen in diesen Haik eingewoben haben. Neunundneunzigmal Hoffnung auf das Letzte, das Einzige, das Zeichenlose. Erfahrbar als Schutz allein, namenlos.
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