Zu sehen ist der Rücken einer nackten Person mit weiblich anmutenden Zügen. Die verdeckten Glieder lassen die Figur als Torso erscheinen. Und doch bricht das ständige Atmen des sonst regungslosen Körpers den Eindruck einer bloßen Skulptur. Erstaunlich leicht fühlen wir uns in den beinahe abstrakt wirkenden Leib ein, der am Rande des ruhigen, aber doch bewegten Wassers positioniert ist. Diese Perspektivenübernahme wird insbesondere durch das romantische Motiv der Rückenfigur angeregt. Der Blick, so lässt die Komposition vermuten, gilt den Weiten der See. Durch ihn sind wir auf den Strom des Wassers gerichtet.
Der Strom des Wassers dient spätestens seit Heraklit den Menschen als Metapher für das unentrinnbare Abfließen der Zeit und den Modus allen Seins. Doch die See, die A K Dolven vorstellt, hat keine klare Richtung. Spielerisch, wenngleich nicht weniger bestimmend, vermag das leicht belebte Wasser ein Verständnis der Zeit als Ort des Seins verschiedener Möglichkeiten zu vermitteln. Die Strenge der Zeit, so ließe sich Dolvens Videoinstallation interpretieren, besteht nicht ausschließlich in einem bloßen Determinismus des Ablaufs. Vielmehr erscheint die Zeit in Form der See als unentrinnbares Medium des Lebens, insofern sich der gliederlos wirkende Leib nur in den Weiten des Wassers frei entfalten kann. Tatsächlich nimmt der bescheidene Tanz der See auch nahezu den gesamten Horizont des Videoausschnittes ein.
Der kleine trockene Vorsprung, auf dem der zarte Torso platziert ist, scheint dagegen nur ein kurzer Aufenthaltsort der Figur zu sein. Im Trockenen, so scheint uns Dolven mitzuteilen, ist der Leib bloß gliederlos und keiner Bewegung fähig. Auch die glatte und haarfreie Haut lässt eine dem Nassen entsprechende Existenz vermuten. Damit wirkt die im Trockenen positionierte Person ihrem eigentlichen Seinsort entrückt. Am Rande des Wassers lässt sich die See zwar überblicken, doch der Preis dafür ist Stillstand. Ist er es wert? Der Videoausschnitt gibt auch hierzu Auskunft. Der Überblick ist lediglich oberflächlich, das Wasser lässt sich nicht begreifen, nicht unterteilen, nicht erfassen. Darauf verweist der gliederlose Leib sinnbildlich. Zudem vermag die Wasseroberfläche, die für das bloße Betrachten zur Leinwand für das Schauspiel von Lichtreflexionen wird, kaum etwas über das Leben im Wasser zu verraten. Nimmt man das Bild der See als Metapher für die Zeitigung des Seins ernst, d.h. als Sinnbild dafür, dass sich alles uns in der Erfahrung zeigende Sein zeitlich ereignet, so entfaltet Dolvens Videoskulptur eine dringliche Botschaft: Anstatt sich einer bloß reflektierenden Haltung zu verschreiben, welche versucht, das Leben in seiner zeitlichen Ausgestaltung zu überblicken, gilt es, den Sprung in die Wellen der See, d.h. in das Leben, zu wagen.
Dort nämlich, im Wasser oder eben in der Zeit, kann sich das Selbst, repräsentiert durch den stromlinienförmigen Torso, frei bewegen und das Sein erkunden. Die Exploration wird dabei allerdings nicht durch den völlig ungebändigten Blick des Auges, sondern auf ständiger Tuchfühlung mit der Realität geführt. Die Orientierung in der Zeit verdankt sich demnach nicht einer Sicht, die alles überblickt, sondern ergibt sich aus dem direkten Kontakt mit den Dingen.
Die neben dem Torso abgelegte Handtasche könnte auf eine notwendige und zentrale Bedingung verweisen, um sich einer offenen Zeitigung, der freien Bewegung im Wasser hingeben zu können: auf die Gegenstände, welche typischerweise in Handtaschen verwahrt werden, müssen wir verzichten. In die offene See kann die Tasche nicht mitgenommen werden. Was also müssen wir hinter uns lassen? Symbolisch betrachtet lässt uns die Handtasche an die intimsten und persönlichsten Gegenstände denken. Personalausweis, Mitgliedsausweis oder Lieblingsfotos. Für die freie Bewegung im Wasser können diese Gegenstände hinderlich sein. Im übertragenen Sinne könnte das bedeuten: Für die eigene Entfaltung in der Zeit im Kontakt mit der Realität können die eigene Identität, das Gedächtnis und die Erinnerungen hinderlich sein und Potenziale neuer Entwicklungen verdecken. Dazu zählen auch die Vorkehrungen, die für alle möglichen Situationen getroffen werden. So packen wir Handcreme, Nagelschere oder Lippenstift. Doch die Vorwegnahmen potenzieller Begebenheiten, so könnte man Dolven deuten, erschweren die freie und spontane Entfaltung in der Zeit. Aber auch noch eine andere Frage wird aufgeworfen: Was nutzt die Handtasche eigentlich dem fast regungslosen Torso? Ohne Arme muss doch der Abstand zwischen Handtasche und Körper unüberwindbar erscheinen. Vielleicht ist das aber auch Dolvens Art, uns darauf hinzuweisen, dass Gedächtnis, Erinnerungen und Zukunftsausblicke nicht einmal in der Reflexion auf die Zeit des eigenen Lebens wirklich nützlich sind.
Letztlich, so möchte ich vorschlagen, propagiert Dolvens Komposition somit ein Verständnis des rechten Zeitgefühls, das nur in der Zeit selbst durch Einlassen auf die Zeitigung des Seins entstehen kann. Der Hinweis auf ein solches Zeitgefühl ist jedoch indirekt. Zunächst nämlich steht das ruhige Atmen des skulpturhaften Leibes im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht aber Entspannung strahlt die Atmung aus, sondern vielmehr Beklemmung. Der Ausblick auf die See, die Reflexion auf die Zeit des eigenen Lebens, so lese ich hier Dolvens Darstellung, kann überwältigen und uns erstarren lassen. Das sich hieraus ergebende Zeitgefühl ist eines der Machtlosigkeit, Unbeweglichkeit und Unbegreifbarkeit. Man könnte es vielleicht so deuten: Am Rande des Wassers ist die Figur zwar den Mächten der Gezeiten des Fließens enthoben, allerdings wird sie aber dadurch fast zu einem bloßen Körper degradiert, der seine Lebendigkeit zu verlieren droht. In der Reflexion des eigenen Lebens und seiner Zeit verdinglichen wir uns selbst, betrachten uns als Objekt.
Dann aber schließt sich gleich die nächste Frage an: Worin soll das rechte Zeitgefühl dagegen bestehen? Und inwiefern gibt Dolven hierüber Auskunft? Mein Antwortvorschlag nimmt erneut auf den Gedanken des eigentlichen Seinsortes des Selbst Bezug. Ein echter, d.h. fühlender und beweglicher Leib scheint die präsentierte Figur nur im Wasser sein zu können. Es ist, als würde Dolven uns sagen wollen: Herr werden wir über die Zeit nur in der Zeit, indem wir sie ausfüllen und uns in ihr bewegen, indem wir ihre Eigengesetzlichkeiten anerkennen und uns ihrer Kräfte annehmen. Die Zeit gilt es demnach nicht zu bedenken, sondern zu erleben. Die Figur gehört ins Wasser, wir gehören in die Zeit. Die Spannung zwischen der Idee der Zeit als mächtiges Medium des Lebens und einem Verständnis der Zeit als Ort der freien Entfaltung wird dabei nicht aufgelöst.
Dabei macht uns Dolven auch Mut. Das Wasser als Gleichnis für die Zeit fließt nicht einfach ab, sondern zeigt sich als Räumlichkeit, die verschiedene Richtungen kennt. Nach diesem Verständnis wird die Zeit zum Feld offener Möglichkeiten. In der Reflexion, also im denkenden Durchlaufen aller Möglichkeiten, erscheint die Fülle an Freiheit schnell gewaltig. Gleichzeitig vernehme ich einen Aufruf seitens der Skulptur dazu, den Sprung in das Spiel der sich auftuenden Möglichkeiten zu wagen. Der Aufruf mag subtil sein und keinen Weg vorgeben. Auch seine Verheißung bleibt offen. In meinen Augen ist es aber gerade diese Unbestimmtheit, durch welche die Komposition uns indirekt auf eines der ursprünglichsten Zeitgefühle verweist. Ein Zeitgefühl nämlich, das unser Leben im Grunde prägt: die Hoffnung, die uns von Moment zu Moment trägt und die in ihrer Ursprünglichkeit inhaltlich noch völlig unbestimmt ist. Nicht unwesentlich in Dolvens Videoinstallation erscheint mir in diesem Bezug auch die Präsenz des warmgoldenen Sonnenlichtes. Die Sonne steht seit der antiken Philosophie, insbesondere bei Platon, für die Idee des Guten. Ich habe bereits angedeutet, dass es ein Fehler wäre, die Lichtreflexionen als direkten Ausdruck dessen anzusehen, was im Wasser, d.h. in der Zeit geschieht. Vielmehr denke ich, dass das Sonnenlicht in Dolvens Arbeit die innere Einstellung ausdrücken soll, mit der wir uns dem zeitlichen Geschehen zuwenden sollen. So lese ich die Lichtkomposition als Appell an uns, die Zeitigung selbst im Lichte der Idee des Guten in Empfang zu nehmen. Die Idee des Guten, so möchte ich vorschlagen, kann uns Anlass zu Hoffnung und Freude sein. Sich wieder auf diesen grundlegenden Modus der Zeitlichkeit einzulassen, nämlich sich in einer freudvoll gestimmten Offenheit gegenüber dem Kommenden als solchen, unabhängig von dem was sich vor- und abzeichnet, einzuleben, ließe sich dann letztlich als romantisches Motiv von Dolvens Werk ausmachen.
Die Sehnsucht, die hierbei auch angesprochen ist, richtet sich dabei gleichermaßen auf die Rückkehr zu sich selbst und auf das noch zu erlebende Zukünftige. In Dolvens Bildsprache liegt hierbei allerdings kein Widerspruch vor. Vielmehr wird hier die offene See als natürliches Habitat des Selbst vorgestellt. Die Natur des Selbst liegt demnach in seiner hoffnungsvollen Offenheit für das Kommende. Diese Offenheit, so scheint uns Dolven aber auch sagen zu wollen, überkommt uns nicht einfach, sondern bedarf eines Sprungs. Wichtig ist dabei, dass der Sprung nicht über einen bestimmten Gedanken oder Inhalt, der sich für das reflexive Denken zeigte, zu motivieren ist. Das überschauende Blicken auf die See lässt eben nicht erahnen, was einen im Wasser erwarten wird. Vielmehr gilt es, den Sprung ausgehend von einer Offenheit für die Begegnungen mit dem Anderen zu wagen. Dabei lässt Dolvens Bildkomposition an den berühmten Topos des Sprungs in den Glauben im Werk des Philosophen Søren Kierkegaard denken: ein Sprung, der nicht auf gewissen sachlichen Gründen oder Bestimmungen basiert, sondern der letztlich gerade den Abgrund des rationalen, aber endlosen Zweifelns überwindet, indem er sich von dem Anspruch absoluten Wissens löst und stattdessen dem Glauben überlässt.
Dolvens Impetus ist dabei jedoch nicht religiös zu fassen oder als Verteidigung des Irrationalen zu verstehen. Vielmehr scheint mir der mögliche Sprung ins Wasser als ein Akt des Sich-Überlassens gegenüber dem Sein zu deuten zu sein. Dieses Sich-Überlassen beinhaltet eine Anerkennung dessen, was sich erst in der Begegnung mit dem Anderen gründet und das wir auch nicht im Vorfeld mit uns alleine ausmachen könnten. Dass diese Exponiertheit natürlich auch eine gewisse Brisanz hat, lässt sich in der Nacktheit der Figur und der darin zum Ausdruck kommenden Vulnerabilität erahnen. Und doch wäre der Sprung nicht eine bloße Auslieferung. Gerade weil die Zeitlichkeit das natürliche Lebensfeld des Selbst aufspannt, kann der Sprung zugleich als ein Sich-Freilassen, als eine Annahme der eigenen Zeit des Lebens betrachtet werden. Zu dieser Akzeptanz, die sich für das Andere öffnet, ruft Dolvens Videoskulptur auf. Und ohne etwas zu versprechen, lässt sie verkünden, worauf gehofft werden darf: auf die Hoffnung selbst als freudvolle Gestimmtheit der Existenz, als ursprüngliches Gefühl einer Anerkennung der Zeitlichkeit des Lebens selbst.
Dieser Text ist Teil der Ausstellung „Zeitgefühle. Erfahrungen von Temporalität“ (9.12.2022-27.2.2023), die von Jane Boddy und Michael Griff kuratiert wurde.
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