Charlotte, 2001
Anfang November leben sie in einem diffusen Gefühl der Bedrohung. Es gibt Tote, nachdem in zwei Wellen Briefe mit Anthrax-Erregern verschickt wurden. In New York stürzt ein weiteres Flugzeug ab, die Flughäfen werden geräumt, Tunnel und Brücken geschlossen, obwohl schnell klar ist, dass es lediglich Turbulenzen gab, auf die der Kopilot falsch reagiert hat. Der Bundestag beschließt eine deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan, der Bundeskanzler stellt die Vertrauensfrage – ein Wort, das in Charlottes Ohren eher nach einem privaten Kontext klingt als nach einem politischen. Es ist, als wäre etwas von ihrer Kindheit zurückgekehrt: Flaggen sind wieder wichtig, plötzlich sieht man sie überall.
Alles geht weiter, obwohl alles vorbei ist. Sie ist nicht mehr dieselbe, aber wer sie stattdessen sein kann, das weiß sie noch nicht. Sie hat keine neue Arbeit gefunden, hat auch kaum danach gesucht, sie weiß nicht, wofür sie sich bewerben soll. Zumindest Simon hat seinen Gastauftritt bekommen, sie schaut ihm zu, wie er Texte lernt und mehr Sport treibt; er hat angefangen, Tai Chi zu trainieren.
„Wir müssen feiern“, sagen Simons neue Freunde. „Man muss feiern, wenn alles den Bach runtergeht. Das ist aktiver Widerstand gegen den Zustand der Welt.“
Greta, 2010
„Also lasst ihr euch scheiden?“
„Wir können uns nicht scheiden lassen, Greta, wir sind nicht verheiratet.“
Karl starrt sein Brötchen an, er hat nur einmal abgebissen, trotzdem ist sein Gesicht voller Himbeermarmelade. Familie ist Krieg.
„Dann verstehe ich es nicht“, sagt Greta.
Wieder werfen sich Simon und Charlotte einen Blick zu, danach erklären sie es noch einmal.
Denn es ist doch ganz einfach. Warum versteht sie das denn nicht? Da gibt es zwei Erwachsene, und da gibt es zwei Kinder. Das geht gut auf. Wenn sich die Erwachsenen nicht mehr vertragen, müssen sie sich voneinander fernhalten. Da gibt es andererseits wenig Geld. Da gibt es aber ein Haus, das groß genug ist, groß wie zwei Wohnungen, ein Haus, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Sollte das nicht reichen, um sich voneinander fernzuhalten?
„Bitte, Greta“, sagt Simon. Er streckt die Hand über den Tisch, dann zieht er sie wieder zurück und hält ihr stattdessen den Brotkorb hin.
Denn natürlich ist klar, wer wen bekommt. Greta ist das Papa-Kind, schon immer gewesen, und Karl ist Charlottes Baby.
„Habe ich dann keinen Bruder mehr?“, fragt sie. „Und das Haus aufteilen, wie soll denn das gehen?“
Karl, 2019
„Ist alles in Ordnung? Was machst du hier, mitten in der Nacht?“
„Nichts ist in Ordnung.“
Wie durch ein Wunder fragt sie nicht sofort nach, sondern lässt ihm die Zeit, die er braucht. Er sieht, während sie auf dem Stuhl hin und her rutscht, einzelne Teile von ihr: eine schmale, erhobene Hand, eine Kuhle am Hals, den weiten Ausschnitt des Nachthemds, die Rundung ihrer Wange.
„Ich bin in der falschen Zeit geboren. Das ist alles total kaputt. Als du so alt warst wie ich … sogar später … man hätte die Welt noch retten können. Jeder hätte das machen können, jeder für sich allein … Es hätte ja genügt, nicht Auto zu fahren … Da hatten sie noch nicht gewonnen!“
„Wer denn?“
„Die ganzen Schweine! Die Kapitalisten! Der Präsident von Amerika kauft ein Naturschutzgebiet in Schottland, nur um da Golf zu spielen. Oder …“
Sie scheint ihm zuzuhören, sie hört ihm zu, und er hört nicht mehr auf.
„… oder Kanadier, die in Griechenland irgendwelchen Goldstaub aus der Erde waschen wollen. Die packen dreißig Minen auf eine einzige Halbinsel … da sieht es aus wie auf dem Mond, nichts mehr da, nur vergifteter Boden. Ich meine … Mama!“
Als er merkt, wie er sie genannt hat, redet er schnell weiter.
„Warum hast du die Welt denn nicht gerettet?“
Simon, 2020
Später, während wir dieselbe Strecke zurückfuhren, die ich gerade zum Bahnhof hingefahren war, wurde ich ganz ruhig. Ab und zu betrachtete ich Karl von der Seite, er atmete gleichmäßig ein und aus. Draußen sah ich dieselben grüngealterten Plattenbauhochhäuser, dieselben trostlosen Schmierereien, dieselben dicken Männer mit ihren heruntergezogenen sächsischen Ich-bin-von-der-Geschichte-verarscht-worden-Mundwinkeln – aber ich sah sie anders als auf dem Hinweg. Ich dachte an die ebenfalls hochhausgroßen Fehler, die Charlotte und ich gemacht hatten, an die kaputten Jahre, die hinter uns lagen, und ich musste zugeben: An Dresden hatte es nicht gelegen. Die Stadt konnte nichts dafür.
Was ist das schon, Zuhause. Eine Idee, und das Zentrum dieser Idee bildet keinesfalls der Ort, an dem man sich befindet. Zuhause muss sein, wo die Familie ist – wenn man eine hat. Denn wären wir sonst nicht verloren, selbst im Paradies?
Wir wollen es besser machen, ab jetzt.
Ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist für uns drei, die wir übrig geblieben sind.
© Schöffling & Co.
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