Performance rund um die Uhr – Zeiterfahrung mit Tehching Hsieh 23. Januar 2023

Wann erfahren wir Zeit am intensivsten? Bei Schlaflosigkeit zieht sich die Nacht in die Länge, und doch können Tage im Handumdrehen vergehen. Wenn die Zeit knapp wird, rast unser Herz und die Atmung beschleunigt sich. Beim Meditieren bleibt die Zeit stehen, wenn Geist und Körper zur Ruhe kommen. Zeit ist tief in unserem Körperinneren physisch spürbar. Durch den Wechsel von Tag und Nacht nehmen wir ihren unbeirrbaren Lauf zur Kenntnis, während sich die Erde um die Sonne und der Mond um die Erde drehen und unser Leben in einen Zyklus von Licht und Dunkelheit tauchen.

 

Doch wie verschieben sich gefühlte zeitliche Strukturen, wenn die Zeit durch die auferlegten Rhythmen der Uhr akzentuiert wird? Durch Mess-, Anzeige- und Einteilungstechnologien wird die Zeit in berechenbare Einheiten zerteilt, in Stunden, Tage und Wochen, die zur Grundlage für die Organisation unseres Lebens werden. Dementsprechend ist uns auch die nach Stunde bezahlte Lohnarbeit nicht fremd, noch sind es Fahrpläne und Zeitpläne, die uns vorschreiben, wann wir aufzustehen und zur Arbeit zu gehen haben. Durch die technologische Entwicklung rund um die Zeit sind wir sogar mit Echtzeit-Tracking vertraut, das uns anzeigt, wie sich ein Fahrer mit einer Essenslieferung durch die Stadt bewegt sowie an Self-Tracking-Wearables und Apps, die unsere Schlafzyklen visualisieren und analysieren. Die ununterbrochene Erfassung von Geschwindigkeiten, Rhythmen und Routinen bietet die Gelegenheit zu Optimierung und größtmöglicher Effizienz.

 

Ein mittlerweile klassisches Werk der Performance Art, das unsere körperliche Beziehung zur Zeitmesstechnologie befragt ist Tehching Hsiehs One Year Performance 1980-1981 (Time Clock Piece). Für die Dauer-Performance installierte Hsieh in seinem Atelier eine funktionsfähige Stempeluhr, ein Beleuchtungssystem und hing gegenüber der Uhr eine Filmkamera von der Decke. Er unterschrieb einen Vertrag, in dem stand: „Ich werde ein Jahr lang zu jeder vollen Stunde mit einer Stempeluhr in meinem Atelier abstempeln“. Über einen Zeitraum von 365 Tagen stempelte er jeden Tag 24 Stunden lang genau zur vollen Stunde eine Zeitkarte. Durch diesen engen Zeitplan konnte er sich nur im Atelier und der direkten Umgebung bewegen und konnte nicht länger als 50 Minuten ununterbrochen ruhen. Seine Zeitkarten dokumentierte er sorgfältig mit jeweils einem Foto, das ihn neben der Stempeluhr zeigt. Nach Ablauf des Jahres belegte sein Archiv, dass er es nur 133 von 8760 Mal nicht geschafft hatte, eine Karte abzustempeln. Das Ergebnis der 8627 erfolgreichen Versuche sind Bildaufnahmen, die er zu einem Zeitrafferfilm verarbeitete, der im Prinzip sein ganzes Jahr in sechs Minuten zusammenfasst.

Statement von Hsieh: "I, Sam Hsieh, plan to do a one year performance piece. I shall punch a Time Clock in my studio every hour on the hour for one year. I shall immediately leave my Time Clock room, each time after I punch the Time Clock. The performance shall begin on April 11, 1980 at 7 p.m. and continue until April 11, 1981 at 6 p.m." Unterschrieben: Sam Hsieh

Auch „Arbeiter-Kontrolluhr“ genannt, dient die Stempeluhr als ein Überwachungsinstrument. So verdeutlicht Hsiehs Werk performativ, wie die Erfindung der Technologie zur Zeitmessung den menschlichen Körper als eine Ressource für die Arbeit nutzbar macht. Der Künstler steht vor der Kamera, die ihn jedes Mal, fast wie in einem Ritual, dabei aufzeichnet, wie er mit stoischem Ausdruck eine Karte abstempelt. Sein Gesicht blickt zurück in die Leere eines Lebens, das sich einzig und allein der Ausbeutung von Arbeitskraft verschrieben hat. Durch ihre unveränderlichen Kontrollmechanismen, spürt man die Zeit der Uhr intensiv. Jedes Abstempeln ist wörtlich eine Einprägung der Zeit – war er zu früh da oder zu spät? War er genau rechtzeitig oder war er nicht anwesend? Jedes Abstempeln bestätigt die vereinbarten Arbeitsbedingungen, die mit seinem Vertrag unterschrieben und besiegelt sind. Gleichzeitig ist jedes Abstempeln auch ein Zeichen, das für den brutalen Entzug der Möglichkeit zum Ruhen steht. So betrachtet, zeigt Hsiehs Werk die Gewalt auf, die man mit zeitlich rigider getakteter Arbeit dem Körper bisweilen antut. Indem er sein körperliches Selbst zur kalten, starren Regelmäßigkeit der Uhrzeit zwingt und sich der Überwachung durch Stempelkarten und Kamera aussetzt, macht der Künstler die rhythmische Fessel der Maschine sichtbar – rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.

Horizontal aufgereiht hängen Karten an Haken, auf denen die Zeitpunkte des jeweiligen Tages vermerkt sind, an denen Fotos gemacht wurden. Jeder Karte entspricht ein tag für den Zeitraum vom 12 März bis 3 April 1981. Unterhalb der Karten hängen vertikal aufgereiht die korrespondierenden Fotos.

So bereitet uns Hsiehs Werk auf eine Welt der Kontrolle und Überwachung vor, die auf Zeitmesstechnologie und Arbeit basiert. In Out of Now (2008) – einem kritischen Überblick über Hsiehs künstlerische Karriere – liest Adrian Heathfield die Performance als eine „systematische Kritik der zeitlichen Logik, auf der die soziale und kulturelle Organisation des Spätkapitalismus gründet“ (32). Obwohl es sich um ein vordigitales Werk handelt, enthält es die Formen und Technologien der Erfassung, die wir heute aus der digitalen Überwachung kennen. In heutigen Begrifflichkeiten gedacht, schuf Hsieh im Wesentlichen eine Performance über ununterbrochenes Selbst-Tracking und präsentierte sich dabei als ein quantifiziertes und in Daten verwandeltes Subjekt. Zwar nutzt sein Werk einen mechanischen Prozess, der aus dem industriellen Zeitalter stammt und erinnert damit an Fabrikarbeiter in der Massenproduktion des industriellen Kapitalismus, doch auch im Zusammenhang heutiger digitaler Zeitmanagement-Systeme ist seine Arbeit noch von Bedeutung. Das erinnert mich an die Mitarbeiter*innen in den Amazon-Lagern, die unter Beobachtung von tragbaren Computern an ihren Armen Bestellungen zusammentragen oder auch an die Zusteller in dunklen Warenhäusern. die App-basierte Lebensmittellieferungen zusammenstellen, damit die Bestellung auch wirklich innerhalb von 15 Minuten an der Haustür des Kunden ankommt. Ähnlich wie beim Abstempeln müssen sich diese Menschen an Arbeitsrhythmen halten, die, über Apps vermittelt, von der Logistik und dem Programm des globalen Handels vorgegeben werden. Die Stempeluhr des Arbeitnehmers hat sich in ein digitales Pingen und Piepen von App-Warnungen und Echtzeit-Überwachungstechnologien verwandelt.

Ein "Motorola Wearable Terminal" an einem künstlichen Arm. Ein Minicomputer, der dem Hersteller zufolge "verbesserte Effizienz und Produktivität durch robuste, leistungsstarke mobile Freihand-Computersysteme und Scanlösungen" ermöglicht. Am Finger hat das Gerät einen kleinen Scanner, am Unterarm ein Display mit Tasten.

Time Clock Piece nimmt die Intensität einer Welt vorweg, die niemals schläft, in der die kapitalistischen Konsumsysteme stets online sind und die Logistik die Motoren der Arbeit antreibt. Mehr noch: Die Performance macht die Intensität der kapitalistischen Arbeitszeit spürbar. Welche Auswirkungen hat es, wenn man in den Lagern von Amazon nach Zeitvorgaben arbeitet oder nach dem Diktat der Apps von Schnelllieferdiensten? Welche Auswirkungen hat es, wenn man in einem solchen Zeitregime lebt? Als Betrachterin frage ich mich oft, wie es weiterging, als die One Year Performance am 11. April 1981, um 18:00 Uhr zu Ende war. Von den Nachweisen der Stempelkarten und fotografischen Aufnahmen einmal abgesehen, wie wurde die Dauer dieses Jahres von Hsiehs Körper „gemessen“ und „aufgezeichnet“? Hat er tagelang ohne Unterbrechung geschlafen oder musste er erst wieder lernen, längere Zeit am Stück zu ruhen? Wurde sein Körper durch die Erfahrung darauf konditioniert, das Intervall von einer Stunde genauer zu erkennen, als es die Körper aller anderen Menschen vermögen? Oder hat das Ganze in der körperlichen und geistigen Gesundheit des Künstlers eine bleibende Furche hinterlassen? Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass sein Haar immer widerspenstiger wurde und seine Augenlider unter der Last der Schlaflosigkeit von Tag zu Tag schlaffer wurden. Ansonsten kann man sich ausmalen, welche anderen Belastungen und welchen Stress diese Erfahrung mit sich brachte. Während seines Jahres unter dem Diktat der Uhr wurden an Hsiehs Körper die hohen Beanspruchungen sichtbar, die das Leben und Arbeiten im kapitalistischen Takt mit sich bringt. Vielleicht war damit schon eine Warnung ausgesprochen vor der Realität quantifizierter und in Daten verwandelter Subjekte, die heute unter den Bedingungen digitaler Überwachungssysteme arbeiten.

 

[Übersetzt aus dem Englischen: Kennedy-Unglaub]

One Year Performance 1980-1981 kann noch bis 17. Februar immer von 0-3 Uhr und 12-15 Uhr (MEZ) hier gesehen werden.

Dieser Text ist Teil der Ausstellung „Zeitgefühle. Erfahrungen von Temporalität“ (9.12.2022-27.2.2023), die von Jane Boddy und Michael Griff kuratiert wurde.

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