Digital heißt, dass sich etwas als eine Zahlenreihe beschreiben lässt, als eine Kette von zählbaren Zuständen wie 1 und 0, An und Aus, Ja und Nein. Darin klingt das lateinische Wort digitus („Finger“) nach, sodass der Begriff mit einem Verweis auf die altbekannte Technik des Zählens mit Fingern verknüpft ist. Längst sind solche Zeichenketten komplex genug, dass sich jedes andere Medium mit ihnen darstellen lässt. Als durch die Pandemie die Möglichkeiten zur analogen Geselligkeit weitgehend eingeschränkt waren, hat sich deshalb das Digitale zum Haupttreffpunkt für nahezu jedweden Sozialkontakt erschwungen. Im Dresdner Club objekt klein a hat man zu diesem Zweck gleich das ganze eigene Areal digitalisiert. Ironischerweise ist der Club auch noch nach der Stelle benannt, an der in der Psychoanalyse Jaques Lacans ein fundamentaler Mangel offenbar wird: der des Realen. Das Objekt klein a ist bei Lacan so etwas wie eine Wunde, die mit der menschlichen Kultivierung entsteht und die auf eine ihr vorausgehende, ungeordnete, unmittelbare oder eben „reale“ Welt verweist. Auch wenn es gut in die Metaphorik der pandemischen Bedürfnisse passen würde, meint Lacan mit dem Realen also gerade nicht unsere alltägliche Vorstellung von Realität, sondern ganz im Gegenteil dasjenige, was sich ihr entzieht und was sich gerade nicht in unserer Ordnung der Welt wiederfindet. In Musikerfahrung und tänzerischem Rausch, wie er bei den alten Griechen im Götterbild des Dionysos gedacht ist, findet sich deshalb vielleicht noch am ehesten eine Zugriffsform auf Erfahrungen desjenigen, was bei Lacan „real“ heißt.
Ab dem 05. März 2022 werden nun in digitalen Veranstaltungen im virtuellen objekt klein a Objekte aus der Porzellansammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen sein. In einer quasi-Nietzschianischen Verbindung von apollinischer und dionysischer Kunsterfahrung findet im Digitalen zusammen, was analog kaum zusammenfinden könnte. Dass dies auch noch an einem Ort geschieht, der „objekt klein a“ heißt, so wie die Stelle, an der bei Lacan auch das menschliche Begehren entsteht, passt da geradezu wie die dionysische Faust aufs apollinische Auge.
Denn nach der Psychoanalyse erwächst aus jenem Mangel am Realen eine Art Kompensationsmechanismus, der die Menschen dasjenige begehren lässt, was ihre kulturelle Ordnung eben dafür vorsieht. Das kann per definitionem so ziemlich alles außer dem Realen selbst sein. Für die Dinge des Begehrens gilt deshalb, was laut Sepp Herberger berühmtermaßen für Fußballspiele gilt: nach dem einen ist vor dem nächsten – ein einfaches Prinzip, das sich je nach Subkulturkreis ebenso auf Partys und natürlich auch den Erwerb von Sammlerobjekten übertragen lässt. Auf die berechtigte Frage, was all das mit Porzellan zu tun hat, könnte man mit dem Porzellansammler und berüchtigten Partyhost August dem Starken deshalb wohl antworten: alles.
Denn Porzellan war bis ins frühe 18. Jahrhundert ausschließlich aus dem fernen Osten zu bekommen. Es musste über weitläufige Handelsnetze bezogen werden und war daher äußerst kostbar und unter europäischen Fürsten höchst begehrt. Chinesisches Porzellan war so eng mit dem Land seiner Entstehung assoziiert, dass im Englischen bis heute von „china“ die Rede ist, wenn über Porzellan gesprochen wird. Im Selbstverständnis der absolutistischen Herrscher Europas, unter denen Status stets durch kunstfertigen Prunk zur Schau zu tragen war, bewunderte man die Chinesen für das feine Material, dessen Herstellung für Europäer lange Zeit ein Geheimnis blieb. Das zarte, durchscheinende Weiß stand für Reinheit und Perfektion und sein Glanz für die Versuchung, wie sie uns angesichts einer noch unbetretenen Schneedecke überkommen mag.
Das chinesische Porzellan war daher für die europäischen Herrscher mit einer gewissen Schmach verknüpft. Die Unfähigkeit selbst ein vergleichbares Material herzustellen, führte nicht einfach nur eine handwerkliche Unterlegenheit vor Augen. Sie bedingte auch eine Abhängigkeit von den Importen aus dem Land der Mitte, das den Europäern die Handelsbedingungen und Preise diktierte. Das Anlegen einer Porzellansammlung war deshalb als Signal finanziellen und politischen Vermögens zu verstehen und keiner trieb dieses Bestreben so weit wie August der Starke, der zu seinen Lebzeiten in Dresden die europaweit größte Spezialsammlung zusammentrug. Wieviel August für diese kuriose chinesische Teekanne bezahlte, ist leider nicht überliefert. Ihr besonderer Reiz liegt in der figürlichen Gestaltung des Gefäßkörpers: rotgoldene Karpfen springen über hoch auftürmende Wellen und eine Muschel bildet den Knauf des Deckels. Mit der symbolischen Bedeutung dieses Motivs in China war der sächsische Kurfürst und polnische König sicher nicht vertraut. Dargestellt sind Karpfen, die erfolgreich gegen den Strom des reißenden Flusses Longmen schwimmen und sich in einen Drachen verwandeln – ein Symbol für den Erfolg bei den kaiserlichen Prüfungen für Mandarine.
Als schließlich unter Augusts Ägide der Alchimist Johann Friedrich Böttger gemeinsam mit dem Naturforscher Ehrenfried Walther von Tschirnhaus in den Jahren 1708/09 das erste europäische Verfahren zur Porzellanherstellung entwickelte, bedeutete dies einen politischen Triumph, der für andere Herrscherhäuser Europas schwer hinzunehmen war. Geschickt spielte August diesen Gewinn wirtschaftlich und politisch aus. Mit gezielten Geschenken steigerte er einerseits die Nachfrage und stärkte zugleich die Wahrnehmung seines Ranges, denn als Gaben, die sich nicht erwidern ließen, formulierte sich in diesen Schenkungen politische Macht. Dass er seine Geschenke auch noch damit kommentierte, dass es sich ja nur um „sächsische Erde“ handle, trieb ihren ermächtigenden Gestus auf die Spitze. Augusts Versuche, mit solchen Präsenten auch die Chinesen zu beeindrucken, stießen im Ursprungsland des Porzellans allerdings kaum auf Resonanz. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, die eigens für ihn gefertigten Objekte selbstgewiss in einer klar hierarchisch gemeinten Anordnung auf der oberen Etage des Japanischen Palais zu präsentieren. Nachdem man in der unteren Etage die fernöstliche Sammlung besehen hatte, stieg man die Treppen hinauf, um nun weiter oben das Porzellan aus sächsischer Fertigung bewundern zu können.
Noch mit den Bildern von der Vielfalt und Schönheit des ostasiatischen Porzellans im Kopf, fiel der Blick der Gäste dort zu allererst auf eine ganze Menagerie aus überwiegend lebensgroßen Tierplastiken aus Meissener Porzellan, zu denen auch die ineinander verbissenen Hunde zählten. Sie konnten sicher nicht anders als staunen! Nicht nur in der Größe und formalen Komplexität waren die Porzellanfiguren mit nichts zu vergleichen, was aus China und Japan in Europa anlandete. Brandrisse und kleinere Fehlstellen in der weißen Glasur lassen bis heute nachvollziehen, welche enorme technische Herausforderungen solche monumentalen Plastiken darstellten, die das Material Porzellan bis an die Grenze des Machbaren austesteten. Noch nie dagewesen war auch die ungemeine Lebendigkeit der Tierfiguren, die in ihrer je charakteristischen Kreatürlichkeit in Porzellan eingefangen wurden. Beim Anblick der in die weiche Flanke des Windspiels verbissenen Bulldogge möchte man am liebsten selbst schmerzvoll die Zähne fletschen.
In China erregte diese neue Herangehensweise an die Porzellangestaltung keinerlei Aufsehen, in Europa allerdings war der sächsische Durchbruch äußerst wirksam. So versuchte man mit allen Mitteln, Einblick in die Verfahren der Meissener Manufaktur zu gewinnen. Pläne für Brennöfen wurden heimlich kopiert, Bedienstete der Manufaktur wurden betrunken gemacht und abgeworben. So dauerte es nicht lang, bis auch anderenorts Porzellan hergestellt werden konnte. Das sächsische Monopol währte deshalb nicht lang. Ab etwa den 1750er-Jahren gab es ernstzunehmende Konkurrenz mit den nicht minder kunstfertigen Fabrikaten der französischen Manufacture royale de porcelaine de Sèvres. Überdies beeinträchtigte der Siebenjährige Krieg (1756-1763) entscheidend die sächsische Produktivkraft. Der große wirtschaftliche Wurf, den August sich von der Entwicklung versprochen hatte, gelang deshalb nicht. Die Porzellanherstellung war zwar trotz der umfangreichen Entnahmen durch den König profitabel, für die erhoffte Kofinanzierung des Staatshaushalts reichte es jedoch bei Weitem nicht. Der Prestigegewinn allerdings war kaum in Zahlen zu bemessen und lässt sich insofern definitionsgemäß auch nicht digital abbilden. Ähnliches gilt für den Wert der sozialästhetischen Ereignisse im objekt klein a. Auch in Bezug auf digitale Clubs und Ausstellungsräume ist es deshalb wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie auch anderenorts eröffnen, so wie es bereits jetzt etwa in Berlin der Fall ist. Meissener Porzellan gibt es dort allerdings nicht zu sehen, denn dieses verdanken wir dem Kurfürsten August, der die Krankhaftigkeit seiner Sammelleidenschaft selbst einmal mit einem Augenzwinkern als „maladie de porcelaine“ bezeichnet hat. Dem Psychoanalytiker Lacan hätte Augusts Selbsteinschätzung über das malade Begehren sicher gefallen.
Auch interessant:
Vom Schlummern der Steine
Des Brennen von Ton im Feuer ist wohl eine der frühesten Technologien, die der Mensch entdeckt oder erfunden hat. Der Rompreisträger Benedikt Hipp ist im Zuge der Ausstellung „Eppur Si Muove – Und sie bewegt sich doch“ mit vielfältigen Arbeiten in Film, Bild und eben Keramik im Japanischen Palais, dem ursprünglichen Ort der Porzellansammlung, vertreten. Hier schreibt er über die Entstehung seiner Keramiken, vom Sammeln der Erden bis zum gebrannten Objekt, als Selbst- und Welterfahrung.
It is what it is
Was passiert, wenn man dem Museumspublikum einen Stapel Stifte, ein paar Blätter Papier und einen ganzen mit weißen Papieren ausgekleideten Raum zur Verfügung stellt? Der Dresdner Künstler Artourette hat das im Zuge der Kinderbiennale im Japanischen Palais getan.
Es geht darum, die materielle Substanz der Kunstwerke zu bewahren
Auch zeitgenössische Kunst altert. Häufig hat man es mit ephemeren und vergänglichen Werken sowie mit zeitgebundenen Medien und Materialien zu tun. Über die Herausforderungen bei der Restaurierung von Gegenwartskunst und Aspekte der Nachhaltigkeit haben wir mit der Restauratorin Franziska Klinkmüller gesprochen, die für die Schenkung Sammlung Hoffmann an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden arbeitet.