Der Giftpilz und die Weinbergskirche: Mit einer Schießscheibe für den Frieden? 31. Mai 2024

Anfang 1980 erhielt der Berliner Künstler Joseph W. Huber ein zerstörerisches Kunstwerk. Durch das internationale Netzwerk der Mail-Art, das sich seit kurzem auch aus Dresden um die ganze Welt spannte, schickte ihm der Künstler Birger Jesch eine Postkarte.

Vorne auf der Karte, die sich als Wettkampfscheibe für das Luftgewehrschießen entpuppt, geht es um die Natur. Rechts unten, wo der Eintrag für die Art des Schießens vorgesehen ist, steht der Satzanfang „nature is“, für dessen Ende die Karte das Wort „giftig“ nahelegt. Wie eine Trauerkarte wurde die Schießscheibe schwarz umrandet. Mitten im Schwarzen sitzt ein roter „Gift“-Aufkleber mit einem Totenkopf. Dort wo der Name des Schützen stehen soll, kleben zwei alte DDR-Briefmarken der Serie „Europäische Giftpilze“, die jeweils einen ungenießbaren Riesen-Rötling zeigen. Auf der Rückseite lädt die Karte mit der Briefmarke und mit einem von der Post routinemäßig platzierten Werbestempel in den Großsedlitzer Barockgarten in Sachsen und in die Staatlichen Museen zu Berlin ein. Gleichzeitig wirbt sie für das Genre der Mail-Art, das mit der Infrastruktur der Post und mit eher ungewöhnlichen künstlerischen Sendungen von durchaus kritischem Inhalt die traditionellen Kunstinstitutionen und -genres unterwandern wollte – und damit auch die Postzensur des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Stasi) auf den Plan rief.

Die in den 1960er Jahren in den USA aufgekommene und 1971 in Paris erstmals unter diesem Namen ausgestellte Mail-Art besteht aus hand- oder maschinengeschriebenen Korrespondenzen, Postkarten, kleinformatigen Grafiken und Schriftstücken, die sich Künstlerinnen und Künstler auf der ganzen Welt per Post zusenden. Sie nahm Anfang der 1970er Jahre über den Ostberliner Künstler Robert Rehfeldt Einzug in die DDR und bot vielen dort lebenden Kulturschaffenden ein schmales Fenster zu einer Welt, die ihnen ansonsten in vielerlei Hinsicht versperrt blieb.1 Joseph W. Huber, Birger Jesch, Robert Rehfeldt und viele andere Mail-Art-Künstlerinnen und -Künstler nahmen dabei auch explizit die Ästhetik der Post aufs Korn. Sie zweckentfremdeten die Stempel, die zum Vollzug der behördlichen Vorgänge bei der Post und in anderen Ämtern der DDR verwendet wurden und kreierten in mühevoller Handarbeit – zum Beispiel aus handelsüblichen Radiergummis – Stempel mit Motiven, Adressen und Sprüchen, um mit der strengen Kunstdoktrin der DDR und ihrer Bürokratie humorvoll umzugehen.


1 Viele Bürgerinnen und Bürger der DDR litten beispielsweise unter der beschränkten Reisefreiheit, für die sie dann 1989 bei der friedlichen Revolution demonstrierten. (Vgl. dazu auch die Tagung Reise(un)freiheit: Mobilitäten von Künstler*innen während des Kalten Krieges, organisiert von Kerstin Schankweiler, Jule Lagoda und Nora Kaschuba, Technische Universität Dresden und Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2024.) Der Berliner Mail-Art-Künstler Lutz Wohlrab zitiert in einem Aufsatz zur Postkontrolle in der DDR auch einige bei Mail-Art-Künstlerinnen und -Künstlern beliebte Verse des Dichters Reiner Kunze: „Brief du / zweimillimeteröffnung / der tür zur welt du /geöffnete öffnung du / lichtschein, / durchleuchtet, du / bist angekommen“. (Reiner Kunze, „einundzwanzig variationen über das thema ‚die post‘“, in: Die wunderbaren Jahre, Frankfurt am Main 1978, S. 123; zit. n. Lutz Wohlrab, „‚Bitte sauber öffnen! Danke‘ Mail Art und Postkontrolle in der DDR“, in: Horch und Guck 2/38 [2002], S. 42–46.) Zur Mail-Art als Netzwerk vgl. Kornelia Röder, Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art: seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989, Köln 2008; vgl. Katrin Mrotzek und Kornelia Röder (Hrsg.), Mail Art. Osteuropa im internationalen Netzwerk, Ausst.kat. Staatliches Museum Schwerin, Schwerin 1996.

Vor diesem Hintergrund wird Jeschs Postkarte an Huber gleich mehrfach zum Giftpilz: Als künstlerische Alternative zu dem in den staatlichen Museen vertretenen kunsthistorischen Kanon, als auffällig unkonventionelle Sendung inmitten der Briefe und Ansichtskarten, die sonst mit der Post verschickt wurden und als Antithese zu dem von Huber wenige Jahre zuvor ausgerufenen umweltpolitischen Kunstprojekt Nature is life – Save it!,2 auf das Jesch hier mit der widersprüchlichen Aussage reagiert, die Natur sei nicht nur lebendig, sondern mitunter auch tödlich.


2 Vgl. Sterre Barentsen, Miningscapes and Acid Lakes. An Environmental Art History of the late-GDR Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2023; vgl. Petra Lange-Berndt, „Nature is Life – Save It! Kollektivität und Ökologie in der DDR“, in: Kunstforum International 263/Rebellion und Anpassung (2019) S. 128–135; vgl. Antonia Napp, „Der bedrohte Planet. Umwelt und Zerstörung als Thema“, in: Kornelia Röder (Hrsg.), Außer Kontrolle!: Farbige Grafik & Mail Art in der DDR, Ausst.kat. Staatliches Museum Schwerin, Köln 2015, S. 64–72.

Huber hatte seine Mail-Art-Kontakte seit 1977 darum gebeten, ihm Sendungen zum Thema Natur- und Umweltschutz zu schicken. Diesem Anliegen kam Jesch mit seiner Karte nach3 und nahm sich die Idee von Huber selbst zum Vorbild: Neben der Postkarte schickte er seinem Kollegen wahrscheinlich auch einen Aufruf zu seinem eigenen „ersten Mail Art-Projekt aus Dresden“. Dieser bestand aus einem mit einer Wachsmatrize vervielfältigten Papierzuschnitt und einer nackten Schießscheibe, die wiederum Huber künstlerisch bearbeiten und an Jesch zurücksenden sollte. Jesch rief mit wenigen, aber konkreten Informationen dazu auf an seinem Projekt teilzunehmen: Man sollte per Collage, Zeichnung oder Druck im Format von bis zu 21 x 30 cm künstlerisch mit der Zielscheibe arbeiten und das Resultat bis zum 14. Oktober 1980 an Jesch zurück nach Dresden schicken.


3 In ihren Ansichten zum Natur- und Umweltschutz waren sich Huber und Jesch größtenteils einig. Jesch ist mit insgesamt fünf Einreichungen auf den siebzehn von Huber erstellten Postkartenpostern der Aktion Nature is Life vertreten: vgl. Staatliches Museum Schwerin, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_03, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_06, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_07, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_11 und 19795 Gr MA_15.

Die organisatorische Herausforderung für Jesch bestand darin, dass solche Mail-Art-Projekte in der DDR noch nicht allzu weit verbreitet waren, während sich in der internationalen Mail-Art-Community bereits ein Modus Operandi für sie etabliert hatte. Unter dem Motto „no jury, no fee, no return“ aktivierte man zunächst mit postalischen Aufrufen das globale Netzwerk der Mail-Art. Diese Einladungen wurden an Hunderte Personen versandt, die daraufhin Postkarten oder grafische Werke an eine bestimmte Adresse schicken sollten. Das Ziel war entweder eine Privatadresse oder ein Ausstellungsort, an dem die eingegangenen Werke anschließend präsentiert werden sollten. Während das Thema der Aktion jeweils neu bestimmt wurde, blieben die Konditionen stets gleich. 

Die eingereichten Werke wurden nicht bewertet (no jury), es wurden keine Honorare gezahlt und keine Teilnahmegebühr gefordert (no fee) und keine Einreichungen zurückgeschickt (no return). Idealerweise erhielten im Anschluss alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Dokumentation des Projekts. Jeschs Aufruf orientiert sich eng an diesen Vorgaben und hielt für die Probleme, die die Durchführung einer solchen Aktion in der DDR mit sich brachte, schon vorab einige kreative Lösungen parat: Den Mangel an künstlerischen Arbeitsmaterialien und die Gefahr, die eine allzu deutliche Beschreibung der inhaltlichen Absichten seines Vorhabens barg, umging er damit, dass er als Arbeitsgrundlage ein kostengünstiges, handelsübliches Sportutensil (die Schießscheibe) auf Postkartengröße zuschnitt und statt einer ausführlichen inhaltlichen Beschreibung eine eigene künstlerische Bearbeitung eines solchen Bogens mitschickte.4 Der Unmöglichkeit einer uneingeschränkten Ausstellung, Dokumentation und Publikation des Projekts plante er damit zu begegnen, dass er aus den besten Einreichungen ein Poster erstellen, dieses vervielfältigen und es dann an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer versenden wollte.


4 Die in Neuruppin in Brandenburg produzierten „Internationalen Luftgewehr-Scheiben“ schnitt Jesch auf das übliche Postkartenformat zu, indem er rechts die Wettkampftabelle abschnitt. (Vgl. Link [22.05.2024])

Vor Jesch hatten in der DDR nur Rehfeldt und Huber erfolgreich eigene Mail-Art-Aktionen ins Leben gerufen, diese aber nicht im Land ausgestellt. Rehfeldt realisierte 1975 die Aktion Art in Contact, die in der Galerie Teatru Studio im Warschauer Kulturpalast ausgestellt wurde und 1980 die Aktion Contart Mail Box als Teil der Krakauer Grafikbiennale. Huber rief 1977 das besagte Projekt Nature is Life – Save it! ins Leben, stellte es allerdings erst 1982 in Berlin aus. Bereits 1978 katalysierte die von Klaus Werner organisierte Ausstellung Postkarten und Künstlerkarten in der Berliner Galerie Arkade die Verbreitung von Mail Art in der DDR. Auch Jesch wurde durch sie auf das Genre aufmerksam.5 Jeschs folgerichtige Betonung, dies sei das „erste Mail-Art-Projekt aus Dresden“, reiht ihn ausstellungshistorisch neben Rehfeldt, Huber und Werner ein. Er wollte die Macherinnen und Macher der Mail-Art dazu motivieren, nun auch Dresden an ihr internationales Netzwerk anzuschließen, um die globale Gemeinschaft von vernetzten Kunstarbeiterinnen und Kunstarbeitern zu erweitern. Diese sollte sich – so Rehfeldts Idee – mit ihrer Kunst solidarisch an der zukunftsorientierten Mitgestaltung der Gesellschaft durch die Kunst beteiligen.6


5 Vgl. Birger Jesch, „Mißbrauch sakraler Räume für staatsfeindliche Zwecke“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 96.
6 Vgl. Robert Rehfeldt, „Ursachen und Wirkung der Kunst in der Kommunikation – die Mitteilung progressiver Ideen per Post“, in: Bickhard Bottinelli (Hrsg.), Die Post als Künstlermedium: mail art + Künstlerstempel, Kassel 1976, S. 18–21.

Obwohl dieses Kunstverständnis der Mail-Art mit den Werten des Sozialismus zweifellos gut vereinbar gewesen wäre, geriet Jeschs Schießscheibenprojekt schnell in das Fadenkreuz der Postzensur der Stasi. Sie bewertete die Mail-Art als „westliche Modererscheinung auf dem Gebiet der bildenden Kunst“ mit „feindlich negativer Einstellung“, die „versteckte Angriffe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern führen“ und „offen ihre pazifistische Gesinnung verbreiten“ würde.7 Jeschs Projekt und die von ihm verschickten Postkarten wurden also wie angekündigt als destruktive Kunst wahrgenommen, die die sozialistische Diktatur als solche zu entblößen und das Friedensdiktat der DDR als Farce zu entlarven vermochte. Dass Jesch also trotz einer verlängerten Abgabefrist nach über 300 verschickten Einladungen nur 50 Einreichungen erhielt, hatte unter anderem damit zu tun, dass die Stasi seine Postaus- und -eingänge emsig abfing.8


7 Schriftstück „Maßnahmen zur Verhinderung pazifistischer Aktivitäten der evangelischen Kirche“, Bezirksverwaltung für Staatsicherheit Dresden, Abteilung XX, 1. April 1982; zit. n. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe ‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109.
8 Vgl. dazu ein Schreiben aus Jeschs Stasiakte von Januar 1981, das im Bestand des Staatlichen Museums in Schwerin vorliegt. Es dokumentiert, dass er Personen aus Karl-Marx-Stadt dazu einlade, sich an einer Mail-Art-Ausstellung zu beteiligen. Demnach hatte die Stasi Jesch im Visier, schien allerdings noch nicht genau zu wissen, was es mit den Briefkunstprojekten auf sich hatte. Einschränkend muss hier aber auch erwähnt werden, dass die 300 Einladungen teils mehrfach an dieselben Adressatinnen und Adressaten gingen und dass einige der Adressatinnen und Adressaten wohl aus anderen Gründen nicht an dem Projekt teilnahmen. Vgl. dazu und zur Zensur exemplarisch die diesbezügliche Korrespondenz zwischen Jesch und Rehfeldt (Rehfeldt Mail Art Archive, Inv. Nr. 4093 und Inv. Nr. 4534) und zwischen Jesch und Lomholt (Link [22.05.2024]). Zudem startete Jesch nachträglich eine Umfrage, um in Erfahrung zu bringen, ob und aus welchen Gründen seine Kontakte (nicht) an dem Projekt teilgenommen hatten. Über die Resultate dieser Umfrage ist mir noch nichts Näheres bekannt.

Dass die Zensur der Stasi ein willkürlicher und aus heutiger Sicht in seiner Komplexität nur schwer nachvollziehbarer Prozess war, vermittelt sich durch eine von Huber gestaltete Schießscheibe. Sie befindet sich unter den eingegangenen Einsendungen zu dem Projekt, hätte nach den obigen Kriterien aber durchaus der Zensur zum Opfer fallen können. Den Scheibenspiegel in der oberen Bildhälfte überlagert ein handgezeichnetes, rot ausgemaltes Stoppschild. Rechts und links neben das schwarze Ziel schrieb Huber: „KRIEGS · KUNST“ und darunter den Kommentar „welch Wort!“. Im Feld für den Eintrag der „Art des Schießens“ geht es hier im übertragenen Sinne um die Art des Kunstmachens: ein sich in eine Taube verwandelnder Briefumschlag symbolisiert, dass hier friedvoll korrespondiert wird.

Huber, der neben seiner Mail-Art-Aktivität seit 1979 auch satirische Postkarten und Poster herausgab, deren Bild-Text-Kombinationen an die Arbeiten des ebenfalls in der Mail-Art aktiven Künstlers und Juristen Klaus Staeck erinnern, erzeugt mit dieser Bearbeitung der Scheibe Aufmerksamkeit für das damalige Wettrüsten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion. Sein Beitrag aktiviert – ganz im Sinne Jeschs – das ästhetische Potenzial der Zielscheibe zur damaligen Zeit des Kalten Krieges, die vom kontinuierlichen Risiko eines Kriegsausbruchs vor der eigenen Haustür geprägt war: 1978 führte die DDR den Wehrkunde-Unterricht ein und erwog eine Wehrpflicht für Frauen.9 Anfang 1980 begann mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ein weiterer Stellvertreterkrieg des Ost-West-Konflikts. Im selben Jahr boykottierte der Westen die Olympischen Spiele in Moskau.


9 Vgl. Kornelia Röder und Lutz Wohlrab, „International Contact with Mail Art in the spirit of peaceful coexistence – Das pazifistische Schießscheiben-Projekt von Birger Jesch“, in: Zeitschrift der Geschichtswerkstatt Gerbergasse 18 /104 (2022) S. 23.

Vor diesem Hintergrund bezieht Huber politisch klar Position: Sein Stoppzeichen ist als Aufforderung zu verstehen, den Kalten Krieg zu beenden und vermittelt zudem eine generelle Skepsis gegenüber dem Begriff der „Kriegskunst“. Dieser Begriff bezeichnet nicht nur kulturelle oder künstlerische Werke (wie dieses), die sich mit dem Thema Krieg befassen oder in Kriegszeiten entstehen, sondern meint in der Militärwissenschaft auch die strategische, operative und taktische Planung und Ausführung von Kriegen. Huber kritisiert, dass das Wort kriegerischen Handlungen ästhetischen Wert attestiert – und findet mit dieser pazifistischen Haltung in Jesch und den Urheberinnen und Urhebern der anderen Einreichungen einige Gleichgesinnte. Immerhin stand Jeschs Projekt von Beginn an unter dem Motto „International Contact with Mailart – in the spirit of peaceful coexistence“.

Zwar war in seinem Aufruf nicht explizit die Rede vom Pazifismus, aber allein seine Tauschkunstwerke machten in den Augen des Regimes Jeschs ablehnende Haltung gegenüber „jedem, auch dem gerechten Krieg“ deutlich und deuteten für die Zensur auf die Absicht hin, „unter der Losung des Friedens […] die Massen vom revolutionären Kampf abhalten und die Vorbereitung räuberischer Kriege durch die Bourgeoisie verschleiern“ zu wollen.10 Symbolisch für diese vergiftete Stimmung zwischen dem Mail-Art-Künstler und der Stasi ist Jeschs für den dänischen Künstler Niels Lomholt gestaltete Schießscheibe, auf der mitten im Schwarzen ein argwöhnisch nach links blickendes Auge klebt, das eine unsichtbare Gefahr außerhalb des Bildraums zu wittern scheint.11


10 Lexikoneintrag „Pazifismus“ zit. n. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe ‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109.
11 Die Dresdner Mail-Art-Szene, zu der u.a. auch Jürgen Gottschalk, Martina und Steffen Giersch und Joachim Stange gehörten, wurde in besonderem Ausmaß von der Stasi verfolgt. (Vgl. dazu Jürgen Gottschalk, Druckstellen: die Zerstörung einer Künstler-Biographie durch die Stasi (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, 5), Leipzig 2006; vgl. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe ‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109–114; vgl. Lutz Wohlrab und Birger Jesch, „Feinde gibt es überall...: Stasi und die Mail Art in Dresden“, in: Horch und Guck 2/19 (1996) S. 58–64.

Weil diese Sachlage es für Jesch aussichtslos machte, das Schießscheibenprojekt in einem offiziellen Kunstraum in der DDR zu präsentieren, wollte er einen alternativen Ort für die Ausstellung der Einreichungen finden. Und da ihm „klar war, dass nur unter dem Dach der Kirche Öffentlichkeit zu erreichen war,“12 suchte er das Gespräch mit dem Pfarrer der evangelischen Weinbergskirchgemeinde Christoph Wonneberger. Wonneberger, der später einer der einflussreichsten Mitgestalter der friedlichen Revolution wurde, bot damals alternativen Kulturprojekten in seiner Kirche einen Veranstaltungsort und überraschte Jesch mit „seinem liberalen Selbstverständnis“, als er „von der christlichen Tradition der Kunstpräsenz in Kirchen sprach".13


12 Birger Jesch, „Mißbrauch sakraler Räume für staatsfeindliche Zwecke“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 96. 13 Ebd.

So eröffnete am 14. Februar 1981 in der Dresdener Weinbergskirche die erste Ausstellung des Schießscheibenprojekts und damit auch die erste Präsentation einer thematisch abgeschlossenen Mail-Art-Aktion in einem öffentlichen Ausstellungsort in der DDR. Die eingegangenen Postkarten wurden zu Bildtafeln gruppiert und in mehreren Bilderrahmen präsentiert – eine Präsentationsform die zum Standard dessen werden sollte, wie Mail-Art damals ins Display gebracht wurde. Die Funktion eines Wandtextes übernahm das am rechten Bildrand dieser Fotografie erkennbare Dokumentationsposter, auf dem Jesch eine Beschreibung des Projekts, einen Textauszug aus dem Katalog zu der Ausstellung in der Galerie Arkade, vier Postkarten, mehrere Ausschnitte von Briefen und eine Teilnehmerliste befestigt hatte. Die Unterlage für diese Materialien bildet eine großformatige Collage aus Zeitungsmeldungen über das Wettrüsten.

Mit dieser Präsentation seines pazifistischen Projekts in den Räumen der evangelischen Kirche in der DDR begründete Jesch die sich fortan immer weiter entwickelnde Nähe der Mail-Art-Szene in der DDR zu der von der Kirche unterstützen oppositionellen Friedens- und Umweltbewegung, die einige Jahre später die friedliche Revolution und die Vereinigung der DDR mit der BRD vorbereiten und mitgestalten sollte.

Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich beim Staatlichen Museum Schwerin und dem Lomholt Mail Art Archive für ihre Kooperation sowie die Bereitstellung der hier gezeigten Bilder.

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