Anfang 1980 erhielt der Berliner Künstler Joseph W. Huber ein zerstörerisches Kunstwerk. Durch das internationale Netzwerk der Mail-Art, das sich seit kurzem auch aus Dresden um die ganze Welt spannte, schickte ihm der Künstler Birger Jesch eine Postkarte.
Vorne auf der Karte, die sich als Wettkampfscheibe für das Luftgewehrschießen entpuppt, geht es um die Natur. Rechts unten, wo der Eintrag für die Art des Schießens vorgesehen ist, steht der Satzanfang „nature is“, für dessen Ende die Karte das Wort „giftig“ nahelegt. Wie eine Trauerkarte wurde die Schießscheibe schwarz umrandet. Mitten im Schwarzen sitzt ein roter „Gift“-Aufkleber mit einem Totenkopf. Dort wo der Name des Schützen stehen soll, kleben zwei alte DDR-Briefmarken der Serie „Europäische Giftpilze“, die jeweils einen ungenießbaren Riesen-Rötling zeigen. Auf der Rückseite lädt die Karte mit der Briefmarke und mit einem von der Post routinemäßig platzierten Werbestempel in den Großsedlitzer Barockgarten in Sachsen und in die Staatlichen Museen zu Berlin ein. Gleichzeitig wirbt sie für das Genre der Mail-Art, das mit der Infrastruktur der Post und mit eher ungewöhnlichen künstlerischen Sendungen von durchaus kritischem Inhalt die traditionellen Kunstinstitutionen und -genres unterwandern wollte – und damit auch die Postzensur des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Stasi) auf den Plan rief.
1 Viele Bürgerinnen und Bürger der DDR litten beispielsweise unter der beschränkten Reisefreiheit, für die sie dann 1989 bei der friedlichen Revolution demonstrierten. (Vgl. dazu auch die Tagung Reise(un)freiheit: Mobilitäten von Künstler*innen während des Kalten Krieges, organisiert von Kerstin Schankweiler, Jule Lagoda und Nora Kaschuba, Technische Universität Dresden und Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2024.) Der Berliner Mail-Art-Künstler Lutz Wohlrab zitiert in einem Aufsatz zur Postkontrolle in der DDR auch einige bei Mail-Art-Künstlerinnen und -Künstlern beliebte Verse des Dichters Reiner Kunze: „Brief du / zweimillimeteröffnung / der tür zur welt du /geöffnete öffnung du / lichtschein, / durchleuchtet, du / bist angekommen“. (Reiner Kunze, „einundzwanzig variationen über das thema ‚die post‘“, in: Die wunderbaren Jahre, Frankfurt am Main 1978, S. 123; zit. n. Lutz Wohlrab, „‚Bitte sauber öffnen! Danke‘ Mail Art und Postkontrolle in der DDR“, in: Horch und Guck 2/38 [2002], S. 42–46.) Zur Mail-Art als Netzwerk vgl. Kornelia Röder, Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art: seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989, Köln 2008; vgl. Katrin Mrotzek und Kornelia Röder (Hrsg.), Mail Art. Osteuropa im internationalen Netzwerk, Ausst.kat. Staatliches Museum Schwerin, Schwerin 1996.
2 Vgl. Sterre Barentsen, Miningscapes and Acid Lakes. An Environmental Art History of the late-GDR Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2023; vgl. Petra Lange-Berndt, „Nature is Life – Save It! Kollektivität und Ökologie in der DDR“, in: Kunstforum International 263/Rebellion und Anpassung (2019) S. 128–135; vgl. Antonia Napp, „Der bedrohte Planet. Umwelt und Zerstörung als Thema“, in: Kornelia Röder (Hrsg.), Außer Kontrolle!: Farbige Grafik & Mail Art in der DDR, Ausst.kat. Staatliches Museum Schwerin, Köln 2015, S. 64–72.
3 In ihren Ansichten zum Natur- und Umweltschutz waren sich Huber und Jesch größtenteils einig. Jesch ist mit insgesamt fünf Einreichungen auf den siebzehn von Huber erstellten Postkartenpostern der Aktion Nature is Life vertreten: vgl. Staatliches Museum Schwerin, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_03, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_06, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_07, Inv.-Nr. 19795 Gr MA_11 und 19795 Gr MA_15.
Die organisatorische Herausforderung für Jesch bestand darin, dass solche Mail-Art-Projekte in der DDR noch nicht allzu weit verbreitet waren, während sich in der internationalen Mail-Art-Community bereits ein Modus Operandi für sie etabliert hatte. Unter dem Motto „no jury, no fee, no return“ aktivierte man zunächst mit postalischen Aufrufen das globale Netzwerk der Mail-Art. Diese Einladungen wurden an Hunderte Personen versandt, die daraufhin Postkarten oder grafische Werke an eine bestimmte Adresse schicken sollten. Das Ziel war entweder eine Privatadresse oder ein Ausstellungsort, an dem die eingegangenen Werke anschließend präsentiert werden sollten. Während das Thema der Aktion jeweils neu bestimmt wurde, blieben die Konditionen stets gleich.
4 Die in Neuruppin in Brandenburg produzierten „Internationalen Luftgewehr-Scheiben“ schnitt Jesch auf das übliche Postkartenformat zu, indem er rechts die Wettkampftabelle abschnitt. (Vgl. Link [22.05.2024])
5 Vgl. Birger Jesch, „Mißbrauch sakraler Räume für staatsfeindliche Zwecke“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 96.
6 Vgl. Robert Rehfeldt, „Ursachen und Wirkung der Kunst in der Kommunikation – die Mitteilung progressiver Ideen per Post“, in: Bickhard Bottinelli (Hrsg.), Die Post als Künstlermedium: mail art + Künstlerstempel, Kassel 1976, S. 18–21.
7 Schriftstück „Maßnahmen zur Verhinderung pazifistischer Aktivitäten der evangelischen Kirche“, Bezirksverwaltung für Staatsicherheit Dresden,
Abteilung XX, 1. April 1982; zit. n. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe
‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109.
8 Vgl. dazu ein Schreiben aus Jeschs Stasiakte von Januar 1981, das im Bestand des Staatlichen Museums in Schwerin vorliegt.
Es dokumentiert, dass er Personen aus Karl-Marx-Stadt dazu einlade, sich an einer Mail-Art-Ausstellung zu beteiligen.
Demnach hatte die Stasi Jesch im Visier, schien allerdings noch nicht genau zu wissen, was es mit den Briefkunstprojekten auf sich hatte.
Einschränkend muss hier aber auch erwähnt werden, dass die 300 Einladungen teils mehrfach an dieselben Adressatinnen und Adressaten gingen
und dass einige der Adressatinnen und Adressaten wohl aus anderen Gründen nicht an dem Projekt teilnahmen. Vgl. dazu und zur Zensur
exemplarisch die diesbezügliche Korrespondenz zwischen Jesch und Rehfeldt (Rehfeldt Mail Art Archive, Inv. Nr. 4093 und Inv. Nr. 4534)
und zwischen Jesch und Lomholt (Link [22.05.2024]).
Zudem startete Jesch nachträglich eine Umfrage, um in Erfahrung zu bringen, ob und aus welchen Gründen seine Kontakte (nicht)
an dem Projekt teilgenommen hatten. Über die Resultate dieser Umfrage ist mir noch nichts Näheres bekannt.
Dass die Zensur der Stasi ein willkürlicher und aus heutiger Sicht in seiner Komplexität nur schwer nachvollziehbarer Prozess war, vermittelt sich durch eine von Huber gestaltete Schießscheibe. Sie befindet sich unter den eingegangenen Einsendungen zu dem Projekt, hätte nach den obigen Kriterien aber durchaus der Zensur zum Opfer fallen können. Den Scheibenspiegel in der oberen Bildhälfte überlagert ein handgezeichnetes, rot ausgemaltes Stoppschild. Rechts und links neben das schwarze Ziel schrieb Huber: „KRIEGS · KUNST“ und darunter den Kommentar „welch Wort!“. Im Feld für den Eintrag der „Art des Schießens“ geht es hier im übertragenen Sinne um die Art des Kunstmachens: ein sich in eine Taube verwandelnder Briefumschlag symbolisiert, dass hier friedvoll korrespondiert wird.
9 Vgl. Kornelia Röder und Lutz Wohlrab, „International Contact with Mail Art in the spirit of peaceful coexistence – Das pazifistische Schießscheiben-Projekt von Birger Jesch“, in: Zeitschrift der Geschichtswerkstatt Gerbergasse 18 /104 (2022) S. 23.
Vor diesem Hintergrund bezieht Huber politisch klar Position: Sein Stoppzeichen ist als Aufforderung zu verstehen, den Kalten Krieg zu beenden und vermittelt zudem eine generelle Skepsis gegenüber dem Begriff der „Kriegskunst“. Dieser Begriff bezeichnet nicht nur kulturelle oder künstlerische Werke (wie dieses), die sich mit dem Thema Krieg befassen oder in Kriegszeiten entstehen, sondern meint in der Militärwissenschaft auch die strategische, operative und taktische Planung und Ausführung von Kriegen. Huber kritisiert, dass das Wort kriegerischen Handlungen ästhetischen Wert attestiert – und findet mit dieser pazifistischen Haltung in Jesch und den Urheberinnen und Urhebern der anderen Einreichungen einige Gleichgesinnte. Immerhin stand Jeschs Projekt von Beginn an unter dem Motto „International Contact with Mailart – in the spirit of peaceful coexistence“.
10 Lexikoneintrag „Pazifismus“ zit. n. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe ‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109.
11 Die Dresdner Mail-Art-Szene, zu der u.a. auch Jürgen Gottschalk, Martina und Steffen Giersch und Joachim Stange gehörten, wurde in besonderem Ausmaß von der Stasi verfolgt. (Vgl. dazu Jürgen Gottschalk, Druckstellen: die Zerstörung einer Künstler-Biographie durch die Stasi (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, 5), Leipzig 2006; vgl. Heidrun Hannusch, „Operativer Vorgang ‘Feind’ – Wie die Staatssicherheit die Dresdner Mail Art Gruppe ‘zersetzte’“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 109–114; vgl. Lutz Wohlrab und Birger Jesch, „Feinde gibt es überall...: Stasi und die Mail Art in Dresden“, in: Horch und Guck 2/19 (1996) S. 58–64.
12 Birger Jesch, „Mißbrauch sakraler Räume für staatsfeindliche Zwecke“, in: Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab (Hrsg.), Mail Art Szene DDR 1975 – 1990, Berlin 1994, S. 96.
13 Ebd.
So eröffnete am 14. Februar 1981 in der Dresdener Weinbergskirche die erste Ausstellung des Schießscheibenprojekts und damit auch die erste Präsentation einer thematisch abgeschlossenen Mail-Art-Aktion in einem öffentlichen Ausstellungsort in der DDR. Die eingegangenen Postkarten wurden zu Bildtafeln gruppiert und in mehreren Bilderrahmen präsentiert – eine Präsentationsform die zum Standard dessen werden sollte, wie Mail-Art damals ins Display gebracht wurde. Die Funktion eines Wandtextes übernahm das am rechten Bildrand dieser Fotografie erkennbare Dokumentationsposter, auf dem Jesch eine Beschreibung des Projekts, einen Textauszug aus dem Katalog zu der Ausstellung in der Galerie Arkade, vier Postkarten, mehrere Ausschnitte von Briefen und eine Teilnehmerliste befestigt hatte. Die Unterlage für diese Materialien bildet eine großformatige Collage aus Zeitungsmeldungen über das Wettrüsten.
Mit dieser Präsentation seines pazifistischen Projekts in den Räumen der evangelischen Kirche in der DDR begründete Jesch die sich fortan immer weiter entwickelnde Nähe der Mail-Art-Szene in der DDR zu der von der Kirche unterstützen oppositionellen Friedens- und Umweltbewegung, die einige Jahre später die friedliche Revolution und die Vereinigung der DDR mit der BRD vorbereiten und mitgestalten sollte.
Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich beim Staatlichen Museum Schwerin und dem Lomholt Mail Art Archive für ihre Kooperation sowie die Bereitstellung der hier gezeigten Bilder.
Auch interessant:
Zur Erwerbungsgeschichte kubanischer Kunst am Kupferstich-Kabinett
Im Kupferstich-Kabinett lagert eine ganze Menge kubanischer Drucke und Plakate, die nach der kubanischen Revolution 1959 in die DDR gelangten. Sie sind im Sinne des kulturellen Austauschs der beiden sozialistischen Staaten der Sammlung zugedacht worden, deren Direktor sie nicht selten mit eher geringem Enthusiasmus entgegennahm. Olaf Simon, Restaurator am Kupferstich-Kabinett, hat über die Hintergründe ihres Wegs in die Sammlung geschrieben.
Alternative Geschichte und translokale Resonanzen - Ein Interview mit Musquiqui Chihying und Gregor Kasper
Der Film „The Guestbook“ von Musquiqui Chihying und Gregor Kasper ist noch bis Anfang November in unserer Reihe zu China im Rahmen des „Kontrapunkte“-Projekts hier auf Voices zu sehen. Die Kuratorin der Reihe, Mia Yu, hat für uns mit den beiden Regisseuren gesprochen.
Palais-Garten #3 - Kunst und Käfer: Über mögliche Konflikte mit der Biodiversität im Museumskontext
Der Garten im Japanischen Palais ist ein Ort, an dem Menschen, Pflanzen und Tiere gleichsam koexistieren können. Hier werden ökologische Kreisläufe sichtbar und natürliche Prozesse können beobachtet werden. Im Innenhof eines Museums befinden wir uns damit allerdings im Spannungsfeld zwischen der Vermittlung zukunftsorientierter Themen und dem Erhalt wertvoller Kunst im Sinne der Schädlingsprävention. Wie lässt sich diese Balance bewahren?