Die Geschichten, die uns Coco de Macuco erzählt 28. November 2023

Im Vorgarten meiner Großmutter steht eine Coco de Macuco Palme, die mehr als 70 Jahre alt ist. Diese Miniatur-Palme, unter Botanikern als Syagrus weddelliana bekannt, ist eine einheimische Pflanze meiner Heimat, Magé, einer Region inmitten des Atlantischen Regenwalds im Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien. Vor dem hundertjährigen Haus stehend, ist Coco de Macuco auf den wichtigsten Familienbildern zu sehen, ganz wie eine pflanzliche Verwandte, klein für eine Palme, aber von gigantischer Größe für die Frauen in meiner Familie, die meist unter 1,55 m groß sind.

In diesen 70 Jahren erlebte Coco de Macuco mit, wie meine Urgroßmutter und meine Großmutter fast im gleichen Alter Witwen wurden und um das Überleben von 5 bzw. 6 kleinen Kindern zu kämpfen hatten. Coco de Macuco hat Kinder aus der ganzen Nachbarschaft gesehen, die um das Haus herumliefen und Räuber und Gendarm spielten. Meine Mutter und ihre Geschwister heirateten im selben Haus, bekamen gesunde Kinder, die im Vorgarten spielten und die Miniatur-Kokosnüsse von Coco de Macuco aßen.

Aber die Bedeutung von Coco de Macuco geht über meine Familiengeschichte hinaus. Jahrzehntelang haben arme Bauern aller Altersgruppen ihr Einkommen durch die Ernte von Mini-Kokosnüssen von Coco de Macuco Palmen, die mitten im Urwald wuchsen, aufgebessert. Sie verkauften Säcke voller „coquinhos“ (kleine Kokosnüsse) an Zwischenhändler, die aus der Großstadt kamen. Angeblich wurde Coco de Macuco in Frankreich zur Herstellung von Kosmetika verwendet, aber eigentlich weiß keiner genau, wofür sie verwendet wurde. Das Rätsel bleibt ungelöst, da die Zwischenhändler in den 80er Jahren aufhörten hierher zu kommen.

Pflanzen haben die Fähigkeit, enge Beziehungen zu ihrer Umwelt aufzubauen, zu der oft auch der Mensch gehört. Diese zwischenartlichen Beziehungen sind lokal begrenzt und nur selten in botanischen Datenbanken dokumentiert, die eher für die Praxis der Extraktion, Klassifizierung und Sammlung geeignet sind. Das Gleiche gilt für botanische Sammlungen und Gewächshäuser wie das Pflanzenhaus im Pillnitzer Schlossgarten: das 1859 erbaute Palmenhaus im so genannten Holländischen Garten. Meine Vorstellung von einem Holländischen Garten war zunächst eine Wiese voller Tulpen in allen Farben. Die Realität ist jedoch weitaus schlimmer, denn Tulpen, ein niederländisches Nationalsymbol, sind nicht einmal in den Niederlanden heimisch, sondern wurden bereits vor 3000 Jahren von den Türken angebaut. Dieser Bereich heißt Holländischer Garten, weil er der Pflanzensammlung aus den ehemaligen holländischen Kolonien, wie z. B. Südafrika, gewidmet ist.

Die aktuelle Palmenhaus-Sammlung stammt von 2009, dem Jahr, in dem das Gewächshaus wiedereröffnet wurde. Und die Pflanzensammlung des Gewächshauses folgt, obwohl erst kürzlich renoviert, noch immer dem ursprünglichen kolonialen kuratorischen Prinzip, „holländische und neuholländische Pflanzen aus Südafrika und Australien“ zu zeigen – eine Beschreibung, die dem erklärenden Text der Ausstellung im Palmenhaus entnommen wurde.

Wie in anderen botanischen Sammlungen werden die Pflanzen hier durch ihre Pflanzenfamilie, ihren deutschen Trivialnamen, ihren wissenschaftlichen Namen und eine vage Herkunftsangabe gekennzeichnet. In der Ausstellung vor Ort wird viel über die zahlreichen Arbeiten zur Rekonstruktion des Gewächshauses berichtet. Der didaktische Text beschreibt sehr detailliert die Materialien, die für die Errichtung dieses Wunderwerks der deutschen Ingenieurskunst verwendet wurden, widmet aber fast keine Aufmerksamkeit den Pflanzen, die von so weit hergeholt wurden, um das gläserne Gefängnis zu bewohnen. Ihr ursprünglicher Lebensraum, ihre lokale Verwendung und die Prozesse kolonialer Tauschgeschäfte, die es ermöglichten, dass immer mehr Generationen tropischer Pflanzen das Palmenhaus bevölkerten, waren nicht erwähnenswert.

Im vierten Teil der Ausstellung Pflanzenfieber im Park- und Schlossmuseum Pillnitz ist der Hauptraum der Geschichte des Parks gewidmet. Wenn man diesen Raum betritt, zeigt eine Karte an der Wand das Pillnitzer Netzwerk von Kontakten zu königlichen Gärten und botanischen Einrichtungen. Interessanterweise geht dieses nicht über den europäischen Kontinent hinaus, sondern bildet eher ein Netzwerk von Institutionen als von Pflanzenlieferanten. Die Entscheidung, sich auf die Darstellung von Beziehungen zwischen Menschen und Institutionen zu konzentrieren und nicht auf die Geschichte von Pflanzen, spiegelt die Struktur historischer und botanischer Datenbanken wider, die oft personalistisch, männlich dominiert und von wirtschaftlichen Interessen geleitet sind und in der Regel lokales und indigenes Wissen vereinnahmen oder auslöschen.

Sammlungen und Datenbanken sind keine neutralen Artefakte, sondern das Ergebnis menschlicher Entscheidungen darüber, welche Objekte und welches Wissen als relevant genug erachtet werden, um auf Dauer zu bestehen. Man kann viel über die westliche Kultur lernen, wenn man die Spuren untersucht, die die Entscheidungen des Menschen auf dem Gebiet der Klassifizierung von Pflanzen hinterlassen haben. 2021 lancierte ich das Projekt named after Men: ein Bot, der jeden Tag eine Pflanze, die nach einem männlichen Botaniker benannt wurde, auf eine Website stellt. Der Beitrag zeigt ein Bild der Pflanze neben einem verlinkten Text, in dem sich die Pflanze in der ersten Person vorstellt, wobei die Pflanzenbeschreibungen aus botanischen und öffentlichen Datenbanken in lesbaren Text übersetzt werden. Zusätzlich dazu sind einige der Pflanzen und Botaniker mit ihren Wikipedia-Artikeln verlinkt. Wenn man sich die verfügbaren Informationen ansieht, kann man zwischen den Zeilen Begebenheiten herauslesen, die die Katalogisierung und Benennung von Pflanzen mit der Geschichte kolonialistischer Unternehmungen verbinden.

Dieser Rahmen fürs Storytelling zeigte seine Wirksamkeit bereits im allerersten Beitrag, in dem es um die Pflanze Ficus erecta geht. Neben dem wissenschaftlichen Namen gibt es für Pflanzen auch Synonyme. Das sind Versuche, einen neuen Artnamen zu registrieren, die scheiterten, weil die Pflanze bereits katalogisiert wurde. Eine der Bezeichnungen für Ficus erecta ist Ficus sieboldii, zu Ehren des deutschen Arztes, Botanikers und Reisenden Philipp Franz von Siebold, der 1866 starb. Siebold war Sanitätsoffizier der Armee in Niederländisch-Ostindien, einer niederländischen Kolonie in Ostasien, und arbeitete sechs Jahre lang für die Niederländer in Japan. In dieser Zeit war Siebold in diverse illegale Aktivitäten verwickelt, die in seiner Ausweisung aus Japan unter dem Vorwurf der Spionage gipfelten. Siebold war auch verantwortlich für die Einschleppung des Japanischen Staudenknöterichs nach Europa und Nordamerika, eines invasiven Unkrauts, das alle Arten von Betonfundament schädigt und z.B. Hochwasserschutzanlagen schwächt und Brände begünstigt. Übrigens wird in Teil 1 von Pflanzenfieber, „Pflanzen als Ressourcen“, ein Projekt zur Wiederverwendung von Japanischem Staudenknöterich zur Papierherstellung vorgestellt.

Anlässlich der School of Phyto-centred Design nutzte ich die Fähigkeit von Wissensdatenbanken, unbeabsichtigt Geschichten zu erzählen, um eine Verbindung zum Gebiet des Pillnitzer Parks und Schlosses herzustellen. Zunächst dokumentierte ich alle Pflanzen aus der Familie der Arecaceae, im Volksmund als Palmen bekannt, die ich im Garten finden konnte. Der kleine Datensatz umfasste Arten, die auf vier Kontinenten heimisch sind: Ozeanien (3), Afrika (2), Europa (1) und Nordamerika (1). Bei der Suche nach ihren wissenschaftlichen Namen auf Wikipedia, Kew Plants of the World und Biodiversity Library fand ich einige Themen für Pflanzengeschichten.

Eine der Palmenhaus-Arten, Chrysalidocarpus lutescens, erregte meine Aufmerksamkeit, weil ihre Blätter Ähnlichkeiten mit Coco de Macuco aufweisen. Ich beschloss, zu dieser Art aus Madagaskar noch tiefer in den Datenbankeinträgen zu graben, bis ich überraschenderweise auf einen Aspekt stieß, der sie mit meiner Palmenverwandten verbindet: Sie wurde in der botanischen Literatur des 19. Jahrhunderts erstmals von Hermann Wendland, dem deutschen Botaniker und Gärtner der Königlichen Gärten Herrenhausen in Hannover, erwähnt. Die Königlichen Gärten Herrenhausen verfügten über die größte Palmensammlung Kontinentaleuropas und sind eine der Einrichtungen, die auf der in diesem Artikel erwähnten Ausstellungskarte mit Pillnitz verbunden sind. In meiner Vorstellung sah ich C. lutescens als Schattenspender für Coco de Macuco im Herrenhäuser Schauhaus des 19. Jahrhunderts.

Im Gegensatz zur Coco de Macuco, mit der ich durch lokale Geschichten in Verbindung treten kann, ist die Präsenz von C. lutescens im Gewächshaus unpersönlich. Abgesehen davon, dass sie eine der beliebtesten Zierpalmen ist und sich in der ganzen Welt verbreitet hat, war die persönlichste Information, die ich über sie finden konnte, der einheimische Name, den sie vom Volk der Betsimisaraka erhielt: lafaza. Es ist ein großer Erfolg, dass ein einheimischer Name in botanischen Datenbanken als gebräuchlicher Name anerkannt wird. Wenn man am heutigen Tag, an dem ich diesen Artikel schreibe, im Internet nach dem Begriff Coco de Macuco sucht, könnte man den Eindruck gewinnen, dass dieser Name von mir erfunden wurde. Dieser lokale Name für Syagrus weddelliana bedeutet „Kokosnuss des Bodenvogels Macuco“ und verrät die Beziehung der Palme zur Vogelart Tinamus solitarius. Er ist weder als Trivialname anerkannt noch im Wikipedia Artikel zur Syagrus weddelliana erwähnt.

Um die Überlegungen zu diesem Thema zu vertiefen, schuf ich die Mixed-Media-Arbeit „Coco de Macuco“, die Lafaza und Coco de Macuco zusammen in den Kontext der königlichen Gärten des 19. Jahrhunderts stellt. Die 1x2 Meter große Arbeit besteht aus zwei transparenten Schichten: Im Hintergrund werden die Beziehungen der Palme zum Macuco-Vogel und zu den Extraktivisten durch eine Zeichnung auf Transparentpapier dargestellt; diese Bilder werden teilweise von einem textilen Vordergrund verdeckt, in dem Pillnitz mit Herrenhausen verbunden ist. Dieser baut eine Brücke zu Lafaza und Coco de Macuco, die hier durch botanische Attributetiketten wie wissenschaftlicher Name, Gattung, Jahr der Beschreibung und Höhe dargestellt werden. Die Geschichte, die dieses Werk erzählt, handelt von unbekannten Pflanzengeschichten, die noch darauf warten, enthüllt zu werden. Das Kennenlernen unserer pflanzlichen Verwandten und Nachbarn ist nicht nur ein Versuch, engere Beziehungen zu nichtmenschlichen Wesen aufzubauen. Es ist auch ein Weg, uns wieder mit unseren Vorfahren und dem Land, in dem wir leben, zu verbinden.

Danksagung: Die Autorin dankt ihrer Großmutter Lina, ihrem Onkel Pierre und Dona Dejanira, die das Wissen über Coco de Macuco bewahrt und weitergegeben haben.

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